Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg

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und Formalin löste jedes Mal Würgereiz aus. Nach kurzem Suchen fand sie das Fach mit Eddie Jones Mageninhalt. Sie zeigte Jamie das Fläschchen und flüsterte:

      »Genügt das?«

      In diesem Augenblick ging das Licht aus. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Stahltür. Schritte entfernten sich draußen im Flur. Ihr Puls schoss an die Decke.

      »Halt, aufmachen!«, rief sie aus Leibeskräften.

      Zu spät. Atemlos hetzte sie in der Finsternis durch die Halle, stieß sich an Tischkanten. Eine Schale fiel scheppernd zu Boden, bevor sie endlich den Türgriff erreichte. Verschlossen. Sie rief lauter, polterte mit den Fäusten ans Metall, getrieben von der Vorstellung einer Polarnacht unter Leichen. Jamie war schon gestorben. Er rührte sich nicht. Kein Ton war von ihm zu hören. Sie tastete nach dem Lichtschalter und lauschte. Es blieb still, aber wenigstens konnten sie jetzt die zwei neuen Leichen auf den Tischen wieder sehen. Sie hämmerte weiter an die Tür. Hämmerte, lauschte, hämmerte, lauschte, bis sich endlich Schritte näherten. Das Schloss knackte. Die Tür ging auf.

      »Jesus Maria!«

      Die Frau mit den grünen Gummihandschuhen sprang zur Seite, blasser als die Kunden in der Halle. Chris weckte Jamie mit einem scharfen Ruf aus der Totenstarre, dann schwenkte sie ihren Ausweis und sagte zur Reinigungskraft:

      »Weitermachen!«

      Ihr Gemahl fand die Sprache erst im Auto wieder.

      »Das nächste Mal ohne mich oder mit Formular«, brummte er. »Meine Nerven sind zu schwach für solche Übungen.«

      »Das war nicht zu übersehen«, grinste sie. »Aber wir haben die Probe.«

      »Dr. Schulz wird sich freuen.«

      Dr. Fisher am Regional Medical Center in Landstuhl war ein viel beschäftigter Mann, telefonisch nur für eine Terminvereinbarung zu sprechen und auffallend schweigsam beim Stichwort Eddie Jones. Das Lazarett gehörte zum Territorium der Vereinigten Staaten, tabu für den deutschen Justiz- und Polizeiapparat. Eine Unverschämtheit und ein lächerlicher Anachronismus in Chris‘ Augen.

      Im Gegensatz zu den Kollegen der Drogenfahndung betrachtete sie die Aktion rund ums alte Asylheim als unnötige Zeitverschwendung. Sie wartete mit Seidel ein paar Straßen weiter im Wagen, mehr mit dem Handy als mit den Vorgängen draußen beschäftigt. Das Funkgerät schwieg schon geraume Zeit. Außer einer Krähe mitten auf der Straße bewegte sich nichts. Seidel rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her.

      »Worauf warten die alle?«

      »Auf die Dealer«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Eine uniformierte Streife scheucht sie auf, die Fahnder in zivil verfolgen sie in ihre Löcher und fangen sie ab.«

      »Raffiniert«, murmelte er. »Warum macht man es nicht immer so, wenn es so einfach ist?«

      »Eine Frage des Aufwands.«

      Kaum gesagt, kam Bewegung auf, als erwachte das ganze Viertel mit einem Schlag aus dem Tiefschlaf. Gestalten in Anoraks und Hosen unter der Gürtellinie rannten über die Straße, flüchteten auf Fahrrädern oder suchten Deckung in dunklen Hauseingängen, wo sie die Beamten empfingen. Kleinkriminelle, dachte Chris verächtlich, als ein BMW um die Ecke bog und direkt auf sie zuschoss, die Krähe beinah erwischte und in einer Seitenstraße verschwand. Verfolger waren keine in Sicht.

      »Worauf warten Sie, Seidel? Los, hinterher!«

      Über Funk gab sie Position und Fahrtrichtung durch. »Verfolgen verdächtiges Fahrzeug, silbergrauer BMW Z4, Kennzeichen Berlin SV, Rest unbekannt.«

      Sie verloren das Fluchtauto aus den Augen, bevor sie das Blaulicht montiert hatte. Zum ersten Mal hörte sie einen Fluch aus Seidels Mund. Er lief rot an, nahm den Fuß vom Gas und fragte kleinlaut:

      »Was nun?«

      »Jetzt beruhigen wir uns, machen Meldung und drücken den Kollegen in den Streifenwagen die Daumen.«

      Sie fuhren zurück zum Treptower Park. Nach und nach trafen die Anoraks zur Vernehmung ein. Die Kandidaten, Teenager mit Migrationshintergrund und ein besonders cooles Paar vornehmer deutscher Gymnasiasten, trugen wie erwartet nichts zur Lösung ihres Falles bei. Nach kurzer Befragung überließ sie die Leute der Drogenfahndung.

      Eine Streife in Marzahn stoppte den Z4 in unmittelbarer Nähe eines Drogenlagers, keine fünfhundert Meter Luftlinie von Eddie Jones‘ Wohnblock entfernt. Die Drogenfahndung reagierte mit Begeisterung. Der Fahrer des BMW, ein arbeitsloser Schnösel aus gutem Haus, von Beruf Sohn, entpuppte sich als lang gesuchter Mittelsmann einer Autoschieberbande, die nebenbei Marihuana und Heroin vertrieb. Die sichergestellte Menge an Betäubungsmitteln reichte, um den jungen Herrn für mindestens fünf Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, immerhin. Chris hörte schon die Korken knallen, aber all das interessierte sie nicht, als sie ihm gegenübersaß. Sie schob ein Foto von Eddie Jones über den Tisch.

      »Kennen Sie diesen Mann?«

      Er würdigte das Bild keines Blickes, fuhr stattdessen ungeniert fort, sie mit den Augen auszuziehen. Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.

      »Hier gucken, Mann auf Foto!«

      »Leck mich!«

      »Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Wann haben Sie diesem Mann zum letzten Mal Gras verkauft?«

      Er starrte schweigend auf ihre Brüste.

      »Körbchengröße B. Sie werden bald viel Zeit haben, davon zu träumen.«

      »Leck mich!«

      Sie gab vor, seine Akte zu studieren. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte:

      »Mann, Mann, da kommt ganz schön was zusammen.«

      Kurz vor dem dritten »Leck mich« klappte sie die Akte zu, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd:

      »Aber wissen Sie was? Das ist alles noch gar nichts gegen eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.«

      Er sprang fluchend auf.

      »Setzen!«

      Seine Schimpftirade prallte an ihr ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Als er wieder auf den Stuhl sank, sprach sie ruhig weiter:

      »Unsere Techniker werden Ihre Fingerabdrücke auf jeder Tüte nachweisen, die Sie diesem Mann verkauft haben. Das wissen Sie so gut wie ich. Jetzt ist dieser Mann tot, ermordet. Was glauben Sie, werden wir daraus schließen, wenn wir auch nur eine Hautschuppe von Ihnen an seiner Leiche oder Kleidung finden?«

      Sie befand sich auf sehr dünnem Eis. Die Mischung aus Spekulation und Fakten war gefährlich, aber sie zeigte Wirkung. Die Zeit wurde knapp. In wenigen Minuten würden die teuren Anwälte des Herrn Papa eintreffen und ihr Spiel sofort beenden. Sie musste vorher wissen, in welcher Beziehung er zu Eddie Jones stand. Diesmal wollte er sich lang nicht beruhigen. Ungeduldig verfolgte sie den Sekundenzeiger der Wanduhr, bis er endlich schwieg.

      »Wie gesagt, es sieht gar nicht gut aus für Sie. Vielleicht haben Sie ja tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun, wer weiß? Solang Sie uns allerdings nicht genau sagen können, wann und wo Sie zuletzt Kontakt mit dem Mann auf dem Foto hatten, müssen wir vom Schlimmsten

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