Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
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Читать онлайн книгу Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg страница 12
»Dienstlich oder privat?«
»Dienstlich«, sagte sie und schaltete auf Lautsprecher. »Neomycin, sagt dir das etwas?«
»Hast du Durchfall?«, fragte er bestürzt. »War das Soufflé nicht in Ordnung? Warst du beim Arzt?«
Sie brach in Gelächter aus. »Dienstlich, sagte ich, beruhige dich. Ich möchte nur mehr über dieses Medikament erfahren.«
»Gott sei Dank. Mit Durchfall ist nämlich nicht zu spaßen. Ich kann ein Lied davon singen, wie du weißt. Neomycin ist ein weitverbreitetes Antibiotikum. Es wird üblicherweise bei Infektionen durch gram-negative Bakterien verschrieben, zum Beispiel Escherichia Coli. Allgemein wirkt es gegen aerobe Bakterien, nur in Ausnahmefällen gegen anaerobe Keime.«
»Man verschreibt es also zum Beispiel bei Gastroenteritis?«
»Ja, sicher, bei schweren Fällen.«
Sie las Dosierung und Konzentration von der Packung ab.
»Good Lord! Das ist starker Tobak. Der arme Kerl, der so etwas braucht, muss sehr krank sein. Zudem ist die Einnahme in dieser Konzentration über einen längeren Zeitraum gefährlich. Neomycin greift die Nieren an – unter anderem.«
Das passte zum Obduktionsbefund. Eddie Jones musste über längere Zeit starke Dosen des Präparats geschluckt haben. Warum war so ein schwerer Fall nicht in stationärer Behandlung?
»Danke, Dr. Roberts. Dr. Roberts möchte sich später ausführlich mit Ihnen darüber unterhalten.«
»Lassen Sie sich einen Termin geben«, lachte er. »Ich kann es kaum erwarten.«
Seidel hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er saß vor seinem Bildschirm, schnitt unmögliche Grimassen, als wäre es ein Spiegel, klimperte auf der Tastatur und stöhnte schließlich erleichtert auf.
»Brauchen Sie ein Neomycin?«, fragte sie.
Er blickte sie verwirrt an, bis er die Ironie verstand. »Ach so – nein, aber sehen Sie sich das bitte einmal an.«
Er hatte den Aufkleber der Packung im Computer bearbeitet, die fehlende Ecke digital ergänzt, sodass die Herkunft des Neomycins nun klar lesbar war:
1st Lt. Matt Fisher, MD
LRMC, Germany
»LRMC ist das Kürzel für ›Landstuhl Regional Medical Center‹«, erklärte er mit geschwellter Brust. »Es ist das größte Lazarett der US Streitkräfte außerhalb der USA.«
Sie klopfte ihm auf die Schulter, dass er zusammenzuckte wie von 10’000 Volt getroffen. Ihre Ermittlungen hatten sich eben auf das Bundesland Rheinland-Pfalz und das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika ausgedehnt. Sie freute sich jetzt schon auf den Schlagabtausch mit der Staatsanwaltschaft.
Jamie unterhielt sich am Stehtisch vor seinem Labor mit einer jüngeren Kollegin, als Chris überraschend am BCRT auftauchte. Die kleine Schwarzhaarige war ein ausgewachsener Scherzkeks, nach Jamies fröhlichem Gesicht zu urteilen. Der Ring an ihrem Finger beruhigte Chris nur halbwegs. Jamie trug auch einen.
»Was treibt ihr eigentlich den ganzen Tag in diesem Institut?«, fragte sie misstrauisch.
»Wenn wir nicht gerade am Flirten sind, meinst du? Ich will es mal so formulieren: Womit die andern ihre Zeit verbringen, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich selbst stecke gerade mitten in der Arbeit an regenerativen Therapien des kardiovaskulären Systems.«
»Das sieht man.«
Unverschämt grinsend blickte er dem Po der Kollegin nach und fragte:
»Möchtest du eine kompetente Führung?«
»Nein, danke, aber vielleicht ein Glas Wasser. Kann man hier irgendwo sitzen?«
Sie nahm auf seinem Schreibtisch Platz, um ihr Territorium zu markieren. Die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Halb neugierig, halb betroffen, fragte er:
»Dein Fall ist ein medizinisches Rätsel, nicht wahr?«
»Was bedeutet gram-negativ?«
»Bakterien nennt man gram-negativ, wenn sie sich nicht mit Triphenylmethan einfärben lassen. Das liegt am Aufbau ihrer Zellmembran, der sie zum Beispiel resistent macht gegen Penicillin. Gram-negative Bakterien zeigen allgemein eine zunehmende Resistenz gegen Antibiotika aller Art.«
»Ist das nicht beunruhigend?«
»Und wie! Die Medizin muss stets gröberes Geschütz auffahren, und manchmal hilft auch das nicht mehr, ganz zu schweigen von den Nebenwirkungen.«
»Zum Beispiel Schädigung der inneren Organe.«
»Wie bei deinem Fall? Das Neomycin?«
Sie nickte. Auch ohne über den Fall zu sprechen, wussten beide, worum es ging.
»War das Opfer, dieser US Soldat, in klinischer Behandlung?«
»Eben nicht, das ist eines der Rätsel.«
Jamies nächste Bemerkung erwischte sie kalt:
»Falls doch, müsste ich wissen, in welcher Klinik.«
»Wieso denn das?«
Er blieb die Antwort schuldig, meinte nur:
»Ohne pathologische Analyse lässt sich nicht viel sagen.«
»Im Obduktionsbefund steht nichts Genaues.«
»Das wundert mich nicht. Für solche bakteriologischen Untersuchungen braucht es Speziallabors.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel das Robert-Koch-Institut. Mein Kollege Arne Schulz arbeitet dort als Infektionsepidemiologe. Der kennt jeden Bakterienstamm.«
Sie fasste einen schnellen Entschluss. »Komm mit, es ist nicht weit zur Pathologie.«
»Was, jetzt? Da gibt‘s nur noch Tote um diese Zeit.«
»Umso besser.«
Wie erwartet, fanden sie die Räume der Rechtsmedizin in der Charité verlassen vor.
»Willst du seine Leiche stehlen?«, fragte Jamie nicht zum ersten Mal.
Das schlechte Gewissen war seinen großen Kulleraugen anzusehen. Sie hatte ein gewisses Verständnis dafür. Ihr war auch nicht ganz wohl bei der Sache. Ihr Vorhaben verstieß bestimmt gegen ein Dutzend Paragraphen, die Referendar Seidel spontan zitieren müsste: unbefugtes Betreten, Störung der Totenruhe, Leichenschändung …
»Es wird wohl nicht nötig sein, den Leichnam zu entführen«, sagte sie. »Wir beschaffen uns nur eine Probe etwas schneller, ohne Papierkram und lästige Diskussionen.«
Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Du bist die Polizei.«