Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg

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Dr. Winter, Sie wollten mich sprechen?«

      Sie blickte ihn abwesend an. »Ich? Ach so, ja, hat sich erledigt, danke.«

      Chris sah die Endorphine in seinen Augen tanzen wie Derwische.

      »Haben Sie das gehört, Seidel? Sie hat Danke gesagt, Danke, unvorstellbar.«

      Er nickte ergriffen mit dem Lächeln der Mona Lisa im Gesicht.

      Jens Haase erwartete sie auf dem Flur, ein Bündel Akten unter dem Arm.

      »Das sind Ihre Unterlagen für den Besuch bei Siemens«, sagte er.

      Verblüfft nahm sie die Papiere entgegen. »Ich habe eher ein Blatt A4 erwartet, kein Buch, aber vielen Dank.«

      »Das Wichtigste steht auf dem Deckblatt.«

      Haase mochte nicht der Schnellste sein zu Fuß, beim Recherchieren hingegen schlug er sie um Längen. Ein süßlicher Duft nach geröstetem Getreide und Kakao strömte aus seinem Büro.

      »Betreiben Sie eine Kaffeerösterei da drin?«

      »Riecht gut, nicht wahr? Ich habe die neue Arabica-Mischung erst vor Kurzem entdeckt. Darf ich Ihnen ein Tässchen offerieren?«

      »Schwarz ohne alles«, antwortete sie lächelnd.

      Er nickte zufrieden. »Die einzige Art, diese edlen Bohnen zu genießen.«

      Sie hatte den Tempel der Glückseligen am Treptower Park gefunden. Sie ließ erst ihre Nase trinken, bevor sie die Tasse zum Mund führte. Haase trank mit geschlossenen Augen in kleinen Schlucken. Plötzlich schlug er sich an die Stirn.

      »Ich alter Esel!«, rief er aus, »Dr. Lenz von der KTU Wiesbaden hat angerufen. Entschuldigung, ich werde vergesslich.«

      »Kaffee hilft eben nur dem Langzeitgedächtnis«, lachte sie. »Was hat Caro zu berichten?«

      »Sie wollte mir nichts sagen, aber es scheint wichtig zu sein. Sie sollen sie zurückrufen.«

      War die Kriminaltechnik schon fertig mit der Analyse? Ihre Freundin Caro Lenz, Chemikerin wie sie, arbeitete schnell, aber so schnell? Die ersten Worte aus dem Hörer dämpften ihre Freude sogleich:

      »Wir kommen nicht weiter«, sagte Caro.

      »Mal was ganz Neues. So etwas aus deinem Mund?«

      »Ich hoffe, du amüsierst dich gut.«

      Caro litt, wie schon früher an der Uni, wenn sie ein Problem nicht lösen konnte. In solchen seltenen Fällen war es besser, den Mund zu halten, also wartete sie auf ihre Erklärung.

      »Zuerst das Offensichtliche«, begann sie mürrisch. »Der Täter hat Munition vom Kaliber 9x19 mm Parabellum benutzt. Die Tatwaffe ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beretta M9, die offizielle Pistole der US-Navy. Soweit ist alles klar. Verwertbare Fremd-DNA gibt es keine. Fingerabdrücke auf der Patronenhülse sind durch die Hitze zerstört worden. Die Abdrücke auf der Erkennungsmarke hat der Täter wohl abgewischt.«

      »Das ist Pech, aber nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Chris.

      Caro reagierte unwirsch: »Ich bin noch nicht fertig. Wie gesagt, die konventionelle Methode liefert keine Fingerabdrücke, aber wir haben ›Bullet Fingerprints‹ sichergestellt, und zwar sowohl auf dem Dog tag wie auf der Patronenhülse.«

      »Was sind ›Bullet Fingerprints‹?«

      Die Frage verbesserte Caros Laune augenblicklich.

      »Sieh an, die allwissende Chris ist nicht auf dem neusten Stand«, lachte sie. »Zugegeben, die Methode der ›Bullet Fingerprints‹ ist neu. Wir können damit Abdrücke auf Metall sichtbar machen, selbst nachdem sie abgewischt sind. Man behandelt die Oberfläche mit einem Keramikpulver und legt eine hohe Spannung an. Das Pulver reagiert so mit feinsten Korrosionsspuren, die Finger auf dem Metall zurücklassen. Dadurch konnten wir identische Zeigefinger- und Daumenabdrücke auf der Hülse und dem Dog tag sicherstellen, die nicht vom Opfer stammen.«

      Das hörte sich an wie Weihnachten, und sie gab es Caro zu verstehen.

      »Schon, aber jetzt ist Ende der Fahnenstange«, klagte ihre Freundin. »Wir haben alles abgesucht. Es gibt keinen Treffer in unseren Datenbanken. Ich packe alles in eine Mail und wünsche dir viel Erfolg.«

      Chris teilte Caros Pessimismus nicht. Sie waren einen enormen Schritt vorangekommen. Es gab eindeutige Fingerabdrücke des Täters, anders waren die Spuren auf der Patronenhülse kaum zu erklären, und sie wusste nun, dass der Täter die Erkennungsmarke angefasst hatte. Weshalb, blieb ein Rätsel, aber es könnte ein wichtiges Indiz sein. Die Armeepistole als Tatwaffe passte zu ihrem Verdacht, es handle sich um eine Beziehungstat unter ehemaligen Kameraden. Es lag auf der Hand, durch welche Datenbank sie die Fingerabdrücke nun schicken mussten.

      »Haben Sie gute Verbindungen zur US-Navy?«, fragte sie Haase mit ironischem Unterton.

      »Kann man nicht behaupten, aber mailen Sie mir die Bilder. Ich kümmere mich um den Papierkram und schicke sie ans EUCOM in Stuttgart.«

      »Das wird dauern«, sagten beide gleichzeitig.

      »Wir müssen aufbrechen«, mahnte Seidel.

      Sie nickte, wollte ausloggen, als der Groschen fiel. Es gab möglicherweise einen schnelleren, kleinen Dienstweg: Sofie Neubauer, ihre Bekannte beim Bundesnachrichtendienst. Ein Schuss ins Blaue, aber einen Versuch wert. BND, MAD und Verfassungsschutz besaßen ihre eigenen Archive und Datenquellen. Sie traute Sofie zu, die Fingerabdrücke zu identifizieren, falls sie dort gespeichert waren. Auf dem Weg zu Siemens wuchs ihr Optimismus. Sofie würde bald zurückrufen. Sie spürte es in den Nieren.

      Dagmar Krause, die Personalchefin im Siemensturm, hörte Seidels juristischem Monolog mit offenem Mund zu. Chris wähnte sich in einem alten ›Fall für Zwei‹. Sie traute nicht allen Argumenten ihres Referendars, doch seine Rede wirkte Wunder. Die Personalchefin gab die Akte Eddie Jones ohne Gerichtsbeschluss heraus. Chris überflog die jüngsten Einträge und stutzte.

      »Mr. Jones hat vor einem Monat gekündigt? Was war der Grund?«

      »Wir wissen es nicht. Es war sein Entschluss, völlig überraschend für Herrn Weller, den Sicherheitschef. Mit dem Personaldienst hat Mr. Jones nicht darüber gesprochen.«

      »Seltsam«, murmelte Chris.

      »In der Tat. Es gab nie Probleme mit Herrn Jones, wie sie der Akte entnehmen werden.«

      Ein vorbildlicher Mitarbeiter kündigt von einem Tag auf den andern. Einen Monat später liegt er erschossen im Gras. Was war geschehen? Die Personalakte musste genau analysiert werden, doch Chris versprach sich nicht viel davon.

      »Gab es private Kontakte zu andern Mitarbeitern?«

      Dagmar Krause zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Solche Fragen stellen Sie am besten dem Sicherheitschef. Herr Weller kennt Herrn Jones, seit er bei uns angefangen hat vor sechs Jahren.«

      Paul Weller empfing sie mit festem Händedruck und dem offenen Blick des ehrlichen Mannes. Er war der zweite Mensch, der sich tief betroffen zeigte vom gewaltsamen Tod des Eddie Jones.

      »Eddie

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