Vernichten. Hansjörg Anderegg
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Drei weitere Zimmer, die wohl als Schlafzimmer gedient hatten, fand er ebenfalls leer vor. Die Aschenbecher stanken zwar nach heftigem Gebrauch, enthielten aber keine Kippen. Schnell und gründlich – das Markenzeichen der OMON Einsätze. Allerdings waren auch diese Elitepolizisten nicht perfekt. Nach kurzer Suche fand er doch noch einen Zigarettenstummel unter einem Bett. Vielleicht hatten sie ausnahmsweise Glück mit dem DNA-Abgleich. In der Küche fand er die Kohlsuppe. Das Räumungskommando hatte es nicht für nötig befunden, sie in den Ausguss zu schütten. Der Topf war noch warm. Sonst hatten sie auch hier alles fast klinisch sauber hinterlassen. Das zuletzt benutzte Geschirr und Besteck befand sich frisch gewaschen im noch handwarmen Geschirrspüler. Die Spurensicherung würde ihm danken für diesen sinnlosen Einsatz.
Mit einem Gesicht wie beim Betrachten der leeren Wodkaflasche, die er sich zu Hause aufhob, um nach dem Entzug trocken zu bleiben, stapfte er die Treppe hinunter zu den Zimmern, in denen offenbar die Kinder gehaust hatten. Er begann mit dem Raum am Ende des Flurs, einem Schlafzimmer mit vier Pritschen, das außer durchwühlten Bettlaken nichts hergab. Gegenüber der Tür stand ein Schrank, der einzige im Flur. Auf den ersten Blick wirkte das Möbelstück ziemlich deplatziert. Als er die Schranktür am Knauf aufziehen wollte, stürzte ihm das Ungetüm entgegen, als hätte es nur darauf gewartet, ihn zu erschlagen. Fluchend und keuchend stieß er den Schrank an die Wand zurück. Dabei bemerkte er, wie leicht er sich verschieben ließ. Seine Flüche wurden lauter. Die Kratzer am Boden verrieten, dass er nicht der Erste war, der das Möbel verschob. Er brauchte es nur wenige Zentimeter zur Seite zu schieben, bis er die Tür dahinter entdeckte.
Er schob den Schrank ganz beiseite, zog die Pistole aus dem Halfter, drückte die Türklinke hinunter und stieß sie auf. Sie bildete den Anfang einer Treppe, die steil nach unten führte. Jedenfalls vermutete er es, denn sehen konnte er nur die ersten drei Stufen. Alles war schwarz angemalt, Treppe, Wände, Decke. Er hatte das Gefühl, in den Einstieg einer Kohlenzeche zu blicken. Mangels Taschenlampe versuchte er es mit dem Lichtschalter.
»Jemand da?«, rief er, sich vorsichtig in Deckung haltend.
Es blieb still. Er stieg hinunter. Der süßliche Geruch, der ihm sofort aufgefallen war, verstärkte sich mit jeder Stufe. Nicht unangenehm, nur zu süß für seinen Geschmack, der Geruch, der einem beim Öffnen einer Bonbonniere in die Nase strömt. Das schwarze Treppenhaus mündete in einen ebensolchen Gang, der in ein großes Gewölbe führte. Ein rundes, rosa Bett stand in der Mitte. Primitiv bemalte Kulissen an den Wänden sollten das Innere einer Waldhütte und eine Reihe weiterer kleiner Betten darstellen. Sieben Bettchen für die sieben Zwerge. Im Unterschied zum Märchen besaß Schneewittchen hier ihr eigenes Bett, groß genug für allerhand weiteres Personal, wie er leise fluchend feststellte.
»Ein verdammtes Filmstudio«, brummte er, wobei ihn schauderte beim Gedanken, welche Art Filme hier wohl gedreht worden waren.
Ob Jelena auch auf diesem Bett … Er wandte sich ab, um den Rest nicht denken zu müssen. Ein Geräusch aus dem schwarzen Gang ließ ihn herumwirbeln. Mit einem Satz suchte er Deckung hinter einem Baum aus Sperrholz.
»Polizei! Ist da jemand?«
Die Antwort waren hastige Tritte auf der Treppe. Jemand rannte hinauf, leichtfüßig, nicht polternd wie er.
»Halt, Polizei!«, rief er keuchend, Puls auf 180.
Oben angekommen sah er den Zipfel eines weißen Rocks oder Kleides und Füße in kleinen Sandalen durch die Tür zum Hof verschwinden. Die Flüchtige war ein Kind wie Jelena und flink wie ein scheues Reh. Er sparte sich weitere Rufe, um keine Panik zu schüren, versuchte, das Mädchen mit den schwarzen Zöpfchen im weißen Nachthemd einzuholen. Dabei stolperte er über die Schwelle, fiel der Länge nach aufs Kies. Die spitzen Steine rissen Wunden in die Handflächen, dass beide Hände zu bluten begannen. Er sah gerade noch, wie Schneewittchen durchs Tor auf die Straße rannte. Kaum stand er mit rotem Kopf wieder auf den Beinen, quietschten Bremsen. Ein spitzer Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall ließ das Blut in seinen Adern gefrieren, dann herrschte Totenstille.
»Nein!«, krächzte er heiser.
Mit weichen Knien rannte er ihr hinterher. Schneewittchen lag auf der Straße und bewegte sich nicht mehr. Ein silbergrauer VW-Polo stand wenige Meter entfernt, der Fahrer festgefroren am Lenkrad. Auch der regte sich nicht. Das Telefon am Ohr, rannte er zum Mädchen. Ein Meer aus Vorwürfen stürzte auf ihn ein, als er die Finger an die Halsschlagader legte, um den Puls zu fühlen. Sie lebte, hatte durch den Aufprall das Bewusstsein verloren. Äußerlich war keine Verletzung festzustellen. Brüche, innere Blutungen und Schädel-Hirn-Trauma konnte er nur vermuten und hoffen, dass er sich irrte. Während er Ambulanz und Verkehrspolizei alarmierte und den zur Salzsäule erstarrten Fahrer des VW im Auge behielt, näherte sich sein Dienstwagen mit Sofia am Steuer. Er bemerkte ihn erst, als Jelena noch bevor er stoppte heraussprang. Schreiend rannte sie auf ihn zu.
»Natascha! Natascha!«
Sie wollte sich weinend auf das reglos am Boden liegende Schneewittchen werfen. Er fing sie auf, um Worte ringend. Er brauchte Nachhilfe im Umgang mit Kindern.
»Natascha lebt …«, war alles, was er der verzweifelten Jelena ins Ohr flüstern konnte.
Sofia verjagte die Gaffer, die angehalten hatten und im Begriff waren, auszusteigen. Ihr Dienstausweis wirkte Wunder. Niemand war sonderlich erpicht auf Kontakt mit der Kripo. Endlich stand sie bei ihm und nahm Jelena in die Arme.
»Das ist Natascha«, sagte er. »Sie hat sich im Keller versteckt und ist geflüchtet, als ich … Verfluchte Scheiße!«
Er riss sich vom Anblick des unglücklichen Mädchens los und rannte zum VW-Polo. In der Ferne ertönten die Sirenen der Ambulanz und Polizei, als er die Tür des VW aufzog, dem Fahrer den Dienstausweis unter die Nase hielt und ihm befahl, auszusteigen. Ein junger Mann, um einen Kopf kleiner als er, stand ihm zitternd gegenüber. Falls der Junge überhaupt schon einen Führerausweis besaß, konnte der noch nicht alt sein.
»Sie – ist mir – einfach vors Auto gelaufen«, stammelte er heiser.
Das Elend des jungen Fahrers passte zu seiner eigenen Verfassung. Es stimmte ihn versöhnlich.
»Ich weiß«, sagte er und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Der Junge knickte ein, als hätte er den Solarplexus getroffen, würgte, hustete und kotzte ihm auf die Schuhe, das einzige wasserdichte Paar mit intakten Nähten, das er besaß. Er spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, schluckte aber die Schimpfwörter hinunter. Dem jungen Mann ging es beschissen, das musste genügen. Er übergab ihn der Streife, die gleichzeitig mit der Ambulanz eintraf.
»Passen Sie auf, er hat schlecht gegessen«, murmelte er, nachdem er den Kollegen seine Version zu Protokoll gegeben hatte.
Die Notärztin hatte Natascha versorgt. Die Ambulanz fuhr ab, da trafen endlich die Kollegen der Spurensicherung ein. Er hielt das Briefing kurz, denn Sofia drängte zum Aufbruch. Jelena war kaum mehr zu bändigen. Hysterisch »Natascha« rufend wollte sie dem Krankenwagen nachrennen. Sofias beruhigende Worte prallten ungehört am Kind ab, das offensichtlich unter Schock stand. Die Beruhigungsspritze der Notärztin wirkte erst Minuten später. »Natascha« war das letzte Wort aus ihrem Mund, bevor sie die Augen schloss und gar nichts mehr sagte. Er versuchte vergeblich, sie aufzumuntern:
»Wir haben deine Natascha gefunden wie versprochen, was sagst du dazu?«
Sie sagte