Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
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Sie dachte an Chris und lächelte entspannt. Der Trick erwies sich als todsichere Methode, um Stress abzubauen, was sie noch mehr erheiterte.
»Mache ich Witze?«
»Entschuldige, es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Martin. Sie wollte wissen, weshalb ich so ausgerastet bin nach Fischers Anruf bei dir.«
»Das wüsste ich allerdings auch gern. Wir beide kennen Kommissar Fischer doch lange genug, um zu wissen, was wir ernst zu nehmen haben und was nur heiße Luft ist.«
»Wenn das nur heiße Luft war, warum sagst du es mir dann überhaupt?«
Sie war nun doch im Begriff, sich wieder aufzuregen.
»Weil wir uns vertrauen, Julia, ohne Einschränkungen.«
Die Antwort gefiel ihr, was den Ärger über Fischer allerdings nicht verminderte. »Etwas an ihm treibt mich einfach jedes Mal zur Weißglut«, sagte sie wie zu sich selbst.
»Fischer? Denk an etwas Schönes beim nächsten Interview.«
Sie kannte jetzt eine Methode. »Ich werde es versuchen. Was mich aber schon wundert, ist seine Beziehung zu John Stein. Weshalb regt er sich so auf, weil wir die PR-Agentur erwähnen?«
Martin zuckte die Achseln. »Ich denke, das interessiert uns im Augenblick nicht. Der Fokus bleibt auf den zu erwartenden nächsten Zügen der Geschworenen.«
»Klar, Chef.«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Haben wir uns verstanden?«, fragte er zur Sicherheit.
Er misstraute jedem Satz, den sie mit Chef abschloss, und das üblicherweise mit gutem Grund.
»Klar, Martin«, antwortete sie lächelnd, um ihn zu beruhigen.
Sie setzte sich an den Computer, um die Tweets zu #dieGeschworenen nochmals genau anzusehen. Eine Stunde lang vergaß sie alles um sich herum, versunken im Netz, einer Parallelwelt, die für viele Menschen zur einzig maßgebenden Wirklichkeit geworden war. Der Anruf aus der Kita schreckte sie auf. Solche Anrufe waren die schlimmsten. Die Hand zitterte, als sie auf Empfang drückte.
»Ist was mit Tim?«, fragte sie kaum hörbar.
»Mama!«
»Gott sei Dank! Tim, geht es dir gut?«
Er war schon wieder weg. An seiner Stelle meldete sich die Betreuerin.
»Frau Hahn, guten Tag. Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur informieren. Emma hat angerufen. Ist es O. K., wenn sie Tim mit in den Zoo nimmt? Er freut sich …«
Tim, der Schreihals, unterbrach sie:
»Wir besuchen die Affen!«
Ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper. Tims Welt war noch in Ordnung, obwohl – die Affen sahen das vielleicht anders, aber das war ein ganz anderes Thema. Sie gab ihre Zustimmung und widmete sich der Arbeit mit neuem Schwung. Dieser Hashtag führte nicht weiter. Sie klickte auf den Link, der zum Benutzer juri12 führte, dem Wortführer der Geschworenen. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Schon im dritten Post von juri12 fand sie einen Link auf die Webseite mit der Überschrift Die Geschworenen – für Gerechtigkeit und Ordnung. Ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte ihr. Der rote Peter sah kurz auf, schnitt eine Grimasse und hieb wieder auf die Tastatur ein. Der Hashtag #dieGeschworenen fehlte ausgerechnet in dieser Meldung, deshalb hatte sie die Webseite bisher nicht gefunden.
Als hätte sie eine Geheimtür zu einer unbekannten Welt aufgestoßen, betrachtete sie die Seite auf dem Bildschirm sekundenlang.
»Heilige Scheiße«, murmelte sie leise und sprang auf.
Sie brauchte etwas Süßes zwischen die Zähne. Die Tortelloni waren vergessen, Zeit für die längste Praline der Welt. Die Webseite erweckte einen durchwegs professionellen Eindruck und verblüffte mit dem Design. Sie kannte diesen Aufbau und die benutzten grafischen Elemente. Die Seite der Geschworenen sah aus wie eine Seite aus dem Web-Auftritt der PR-Agentur Stein.
»Also doch!«, murmelte sie grimmig lächelnd.
»Was meinst du?«, fragte das Zebra.
Die Sitznachbarin war unbemerkt vom Außeneinsatz zurückgekehrt. Sie wiegelte ab.
»Nichts. Alles im grünen Bereich.«
Die Zeit bis zur abendlichen Redaktionskonferenz reichte knapp, um die wichtigsten Informationen dieser Webseite, die in Wirklichkeit über fünfzig Seiten umfasste, zusammenzustellen. Sie druckte ein paar krasse Texte aus, bevor sie sich ins Sitzungszimmer begab. Die Berichte und Aufhänger der andern Ressorts interessierten sie kaum. Gedankenverloren wartete sie auf ihren Einsatz.
»Julia, Neues von den Geschworenen?«, fragte Martin endlich.
Ein Adrenalinschub versetzte ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie brachte den Knüller für die morgige Ausgabe. Den würde sie sich nicht nehmen lassen. Es war ihr großer Auftritt. Sie schilderte die Entdeckung kurz und nüchtern. Theatralik war unnötig. Die Texte und die ganze Atmosphäre von Law and Order und hemmungsloser Selbstjustiz unterstrichen deutlich genug, mit wem sie es bei den Geschworenen zu tun hatten.
»Nur schon der Name: die Geschworenen. Was für ein Haufen Spinner!«, schimpfte Martin nach einer Weile betretenen Schweigens.
»Ich denke, Spinner trifft es nicht, Martin«, widersprach sie. »Diese Leute sind gebildet, was man an der Ausdrucksweise erkennt, und fanatisch. Deshalb halte ich sie für brandgefährlich.«
»Sie sind trotzdem Spinner«, wagte der rote Peter einzuwerfen, »akademische Spinner. Von denen gibt›s ja genug heutzutage, wo jeder Depp an der Uni landet.«
Selbstkritik?, dachte sie schmunzelnd. Die eigentliche Sensation hob sie sich bis zum Schluss auf.
»Stellenweise lesen sich die Texte wie Gerichtsprotokolle«, fuhr sie fort. »Das sieht man schön an der Akte Scholz.«
Alle Augen hingen an ihren Lippen.
»Ihr habt richtig gehört. Es gibt eine umfangreiche Akte über das Aachener Opfer Albrecht Scholz auf der Webseite. Darin wird peinlich genau nachgewiesen, welche Verfehlungen sich der ehemalige Lobbyist in Brüssel geleistet und weshalb er versagt hat. Es läuft darauf hinaus, dass Scholz das Lotterleben eines Tunichtguts und Playboys geführt habe, statt Dampf zu machen für ein Freihandelsabkommen der EU mit China, woran insbesondere die Autoindustrie ein vitales Interesse hat. Nach Ansicht der Geschworenen hat Scholz also komplett versagt. Das steht in der Urteilsbegründung. Das Urteil lautet denn auch: schuldig. Darunter steht das Motto, das die ganze Webseite prägt: Wir kriegen euch alle.«
Nach einer Schrecksekunde begannen die Kollegen, wild durcheinander zu sprechen. Sie beobachtete verstohlen Martins Mienenspiel. Da hatte er die Verbindung mit dem heiklen Thema Freihandel. Die Enthüllung machte ihm zu schaffen. Er kämpfte mit sich. Es war nicht zu übersehen. Schließlich klopfte er energisch mit der Krücke auf den Boden.