Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
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Sie war gut vorbereitet. In der Sauna erläuterte sie ihm rasch die Struktur des geplanten Leitartikels. Sein einziger Einwand betraf die Stellen, die als peinlich oder gar beschämend für die Ermittler des LKA interpretiert werden könnten. Sie einigten sich auf einen Kompromiss, mit dem auch ein Tom Fischer leben konnte, ohne eines Nachts mit vorgehaltener Pistole in ihrem Schlafzimmer aufzutauchen. Chris würde auch ihr Fett weg bekommen, da die Presse offenbar mehr über die Geschworenen wusste als das BKA. Sie fühlte sich wie eine Verräterin dabei.
»Ich denke, wir müssen das BKA nicht unbedingt erwähnen«, versuchte sie sich zu beruhigen.
Martin überlegte, stimmte dann zögernd zu. »Einverstanden, es genügt, dass die selbst merken, wer da versagt hat.«
Sie verließ den Glaskubus mit einem inneren Stoßseufzer. Kaum am Arbeitsplatz, stand der rote Peter auf, sein Spielzeug-Megafon in der Hand.
»Alle mal herhören«, brüllte er. »Die Aktivistin Lotte Engel hat für Samstag zu einer Demo gegen Freihandel und Globalisierung vor dem Reichstag aufgerufen. Alle Infos darüber bitte sofort an mich. Ich werde vor Ort berichten.«
Die Lage spitzte sich gefährlich zu. Mit ihrem Leitartikel würde sie Öl ins Feuer gießen, aber das ließ sich nicht vermeiden. Es war ihre Pflicht als Journalistin, die Leser umfassend zu informieren. Wie würden die Geschworenen reagieren? Lobbyist Scholz lebte nicht mehr, weil er zu wenig für die Automobilindustrie getan hatte. Lotte Engel als berüchtigte Linksaktivistin war eine radikale Gegnerin von Freihandel aller Art. Sie hatte an vorderster Front gegen CETA und TTIP gekämpft. Julia fröstelte beim Gedanken, jetzt in Engels Haut zu stecken.
Bevor sie zu schreiben begann, kehrte sie zum Hashtag #dieGeschworenen zurück. Der erste neue Tweet versetzte ihr den vierten heftigen Adrenalinschub des Tages nach Chris, der Kita und der Redaktionssitzung. Ein neuer Benutzer trat auf, dessen Name nichts Gutes verkündete: das Phantom.
Das Phantom @phantombulle
Hat sich schon mal jemand gefragt, wer die Urteile vollstreckt? #dieGeschworenen richten, das Phantom schießt.
Das Phantom @phantombulle
So einfach ist das Leute. Ihr dürft mir gratulieren.
Bernd der Elf @berndeckstein23
Lol! #dieGeschworenen werden sich bedanken für Aufschneider wie dich, @phantombulle! Lächerlich und peinlich.
Rosa Brille @diebrillenschlange
Echt jetzt! Hört auf, #dieGeschworenen zu verarschen. Die sorgen für Ordnung und das ist gut so. Klappe, @phantombulle!
Das Phantom @phantombulle
Beweis: Auf dem Zettel unter dem Stein bei der Leiche von #PlayboyScholz steht: Wir kriegen euch alle #dieGeschworenen. Fragt die Bullen.
Die Geschworenen @jury12
#dieGeschworenen stellen fest: @phantombulle hat Täterwissen. Die Nachricht bei der Leiche stammt von unserer Webseite.
Sie traute den Augen nicht, und sie war nicht die Einzige. Sie sah es am Zeitstempel der nächsten Nachrichten. Auf die Enthüllung des Phantoms folgte eine längere Pause. Die Netzgemeinde reagierte ebenso verblüfft wie sie. Dann überstürzten sich die Meldungen.
Sie war versucht, Chris sofort anzurufen. Bei anderen Beamten des Polizeiapparates hatte sie dieses Verlangen nie gespürt. Das Telefon in der Hand, besann sie sich im letzten Augenblick anders. Chris und ihr Team mussten die Enthüllung auch gelesen haben. Im Unterschied zu ihr würden BKA und LKA allerdings nicht darüber berichten.
Eine Weile verfolgte sie die aufgeregten Reaktionen im Netz. Die anonyme Diskussion driftete schnell ab vom Motiv des Urteils, das sie auf der Webseite der Geschworenen entdeckt hatte, und konzentrierte sich auf das Phantom. Zwei Lager bekämpften sich verbissen, wobei die Gegner von Selbstjustiz, wie sie das Phantom offenbar betrieb, bald unterlagen. Lob, Unterstützung und Ansporn für das Phantom gewannen Oberhand. Die Emotionen schaukelten sich gegenseitig hoch und zwar in einem buchstäblich mörderischen Tempo. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Am liebsten hätte sie den Computer abgeschaltet, um Tim und Emma vom Zoo abzuholen. Die Suche nach dem nächsten Tweet von juri12 hinderte sie daran. Lange wartete sie vergeblich auf eine Reaktion der Geschworenen, während sie den Artikel zu schreiben begann. Die Geschworenen blieben stumm.
Berlin
»Ich kann den Scheiß nicht lesen«, schimpfte der Herr auf dem Rücksitz der Limousine. »Fahren Sie näher ran.«
Der Fahrer zögerte. »Das könnte gefährlich werden, Herr Minister.«
Bundesernährungsminister Hannes Lang wischte sich den Schweiß von der Stirn und krempelte die Ärmel hoch wie im früheren Leben vor dem Betreten des Stalls.
»Unsinn«, entgegnete er ärgerlich. »Das ist freie Meinungsäußerung, und ich will wissen, was die Leute zu sagen haben.«
»Wie Sie wünschen, Herr Minister.«
Eine ansehnliche Menschenmasse strömte trotz Nieselregen an diesem Samstagmorgen durch Berlin zum Regierungsviertel. Je näher die Glaskuppel des Reichstags rückte, desto gefährlicher wurde die Fahrt. Demonstranten skandierten dicht gedrängt ihre Slogans, ohne auf den Verkehr zu achten. Es ging nur im Schritttempo voran, wollten sie nicht Gefahr laufen, Leute über den Haufen zu fahren.
»Näher geht nicht«, meldete der Fahrer.
Der Minister öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit, um zu hören, was das Volk bewegte.
»Freihandel – Mordsschwindel!«, rief die Menge im Sprechchor immer wieder.
»Mordsschwindel«, wiederholte er lachend.
Der Rhythmus passte zu Freihandel, der Inhalt weniger. Als Schwindel würde er das geplante Abkommen nicht bezeichnen, eher als Katastrophe. Es musste verhindert werden. Da stimmte er den Demonstranten zu.
Der Zug stoppte. Der Fahrer musste anhalten. Aus dem Nichts flatterte ein rotes Flugblatt durch den Spalt in den Wagen. Es enthielt eine Auswahl der Sprüche auf den Transparenten.
Stoppt den Wahnsinn – Freihandel nein danke!
Kein Profit durch Kinderarbeit!
Globalisierung nützt nur Millionären!
Deutschland ausbluten durch Billigimporte?
China killt unsere Industrie!