Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Группа авторов

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Pragmatikerwerb und Kinderliteratur - Группа авторов Studien zur Pragmatik

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man den Eindruck, dass sie systematisch ausgenutzt wird. Wir finden Literatur, die nicht „klar“ (‚perspicuous‘) ist, die voll von Ambiguität und Weitschweifigkeit ist, und die die richtige Reihenfolge des Erzählten (ordo naturalis) verletzt. Darüber hinaus können auch die Maximen der Quantität, Qualität und Relation ausgebeutet werden, um bestimmte ästhetische Effekte zu erzielen (Chapman 2014, Warner 2014). So bezieht sich die Maxime der Quantität auf die Menge der gegebenen Information; wenn ein literarischer Charakter oder eine Situation viel zu ausführlich oder genau beschrieben wird, kann dies zu bestimmten pragmatischen Schlüssen Anlass geben. Genauso bei der erzählerischen Ausbeutung der Maxime der Qualität, die sich auf die Wahrheit des Gesagten bezieht. Hier ist das unzuverlässige oder sogar täuschende Erzählen einschlägig. In Bezug auf die Maxime der Relation, die thematische Passung einer Äußerung verlangt, könnte man auf erzählerische Sprünge verweisen, die die Leserin vor Rätsel der Integration von Textteilen stellen.

      Betrachten wir ein konkretes Beispiel, welches Volker Brauns Roman Unvollendete Geschichte (1977) entnommen wurde:

(3) Sie hörte noch und hörte nur halb: daß sie, im anderen Fall, nicht in der Redaktion, also verlassen müsse, nach H., sie könnten, und als Bezirksorgan, das müßte sie sich selber, solche Leute nicht leisten können! (38)

      Der jungen Volontärin Karin, die bei einer Zeitungsredaktion arbeitet, werden vom Parteisekretär Vorhaltungen wegen ihrer Beziehung zu Frank, der ein Jahr im Gefängnis gesessen hat und dem man Kontakte zum Westen nachsagt, gemacht. Es wird von ihr verlangt, dass sie sich von Frank trennt. Falls sie dem nicht zustimme, müsse sie die Redaktion verlassen. Der Text ist offensichtlich ungrammatisch, er erzeugt mangelnde Kohäsion und ist gegenüber einem kohärenten Text, der keine Lücken und grammatischen Fehler aufweist, deutlich markiert. Dennoch kann die Leserin rekonstruieren, worum es geht, sie versucht in der Interpretation, den Text kohärent zu machen, so dass eine kohärente Version so lauten könnte:

(4) Wenn Karin sich von Frank nicht trenne, könne sie nicht in der Redaktion bleiben. Sie müsse sie verlassen und nach H. zurückkehren. Als Bezirksorgan, das müsste sie sich selber denken können, könne man sich solche Leute wie sie nicht leisten.

      Der intendierte narrative Effekt ist, dass die Leserin die Perspektive von Karin übernimmt, die aufgrund ihrer besonderen emotionalen Situation, in der sie sich vor dem Parteisekretär und einem weiteren anwesenden „jungen Mann“ (38) rechtfertigen muss, von ihren Gefühlen übermannt ist, nicht richtig zuhört und deshalb nur einige Wortfetzen aufschnappt. Hier sind besonders die Maxime der Quantität (es wird Information ausgelassen) und die Maxime der Art und Weise (insbesondere die Submaxime „Avoid obscurity of expression!“) betroffen.

      Um Markiertheit in literarischen Texten erkennen zu können, müssen Leser und Leserinnen bereits über solide Grundkenntnisse im Hinblick auf literarische Konventionen verfügen.2 Zu diesen Konventionen gehören etwa die Erwartungen, dass ein Text kohärent ist und dass er die wesentlichen Informationen, die zum Textverständnis notwendig sind, enthält. Eng damit verbunden ist der Erwerb von Schemata und Skripts, d.h. Vorstellungen darüber, wie bestimmte Situationen ablaufen, wie ein Gespräch funktioniert, welche Rollen Personen einnehmen, usw. Nur derjenige, der entsprechende Schemata und Skripts gelernt hat, die quasi „normalen, stereotypischen“ Situationen oder Narrationen entsprechen, ist in der Lage, Abweichungen davon zu erfassen, sie zu kontextualisieren und in einem weiteren Schritt zu interpretieren.

      Um folglich literarische Texte in Kinderbüchern als markiert begreifen zu können, müssen Kinder eine Auffassung darüber entwickelt haben, wie eine „normale, stereotypische“ Beschreibung oder Narration aussieht und wie sie sich von einer „abnormalen, nichtstereotypischen“ unterscheidet. Über den Erwerb solcher Normalitätsannahmen in Bezug auf Kinderliteratur weiß man wenig. In Bezug auf die Erwachsenenliteratur sieht es anscheinend ganz ähnlich aus. Zwar wird hier das Phänomen des „Abweichens als Prinzip“ prinzipiell erfasst und auch in Bezug auf ausgewählte sinnfällige Texte beschrieben (Schuster 2017), aber weder wird expliziert, inwiefern eine Norm angenommen werden kann, von der dann in bestimmter Weise „abgewichen“ wird, noch, mithilfe welcher Schlussverfahren eine Leserin einen intendierten Sinn erschließen kann.3 Diese Situation ist äußerst unbefriedigend. Einen ersten Schritt in diese Richtung sehen wir darin, das Prinzip der Markiertheit (oder Abweichung) deutlicher herauszustellen und es auf literarische Texte zu applizieren.

      In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass sich Levinsons M-Prinzip, wie in (2) deutlich wird, auf Satzrahmen bezieht. Wollen wir über literarische Texte reden, benötigen wir daher den Begriff des markierten Texts. Ein Text ist in dem Maße markiert, so können wir vermuten, in dem er von Normalitätsannahmen abweicht. In diesem Sinne ist das vom Dadaismus inspirierte Gedicht An Anna Blume (1919) von Kurt Schwitters mit seinen Wortwiederholungen, bewusst eingefügten grammatischen Fehlern, Metaphern, ungewöhnlichen Reimen und logischen Widersprüchen in hohem Maße markiert (Schuster 2017: 311f.). Markiertheit, so unsere These, tritt jedoch nicht nur in der Erwachsenenliteratur auf, sondern kann bereits in der Kinderliteratur nachgewiesen werden. Um dies zu illustrieren, konzentrieren wir uns auf einige ausgewählte Bilderbücher. Wir versuchen hierbei, den Begriff der Markiertheit über den Text hinaus auf Bilder und Bild-Text-Relationen auszuweiten.

      3 Fallstudien

      Im Folgenden betrachten wir einige Fälle von herausfordernden Bilderbüchern (engl. challenging picturebooks). Wie schon gesagt, versteht Evans (2015b: 5–6) unter ‚challenging picturebooks‘ solche Bilderbücher, die als „strange, unusual, controversial, disturbing, challenging, shocking, troubling, curious, demanding or philosophical“ beschrieben oder klassifiziert werden können. Diese Aufzählung von Adjektiven bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch die ästhetische Gestaltung der Bilderbücher. Allerdings gehen sie stark mit Wertungen einher, die mit Vorstellungen darüber, was unter einem ‚normalen‘ Bilderbuch zu verstehen ist, verbunden sind. Diese Bewertungsprozesse werden jedoch nicht reflektiert. Auch eine exakte Definition des Begriffs ‚challenging picturebook‘ wird nicht gegeben, so dass es unklar ist, wie man erkennen kann, ob ein bestimmtes Bilderbuch unter diese Kategorie fällt. Dies ist natürlich ein unbefriedigender Zustand.

      Wir möchten hier vorschlagen, dass herausfordernde Bilderbücher solche Bilderbücher sind, die Normalvorstellungen verletzen und daher markiert sind. Emotionale Reaktionen der Leserin oder des Lesers wie Verstörung, Schock, Verwirrung usw. können ein Effekt ihrer Markiertheit sein, müssen es aber nicht, da sie von dem jeweiligen kognitiven Zustand des Betrachters abhängen. Es ist sicherlich sinnvoll, die Kategorie Bilderbuch als eine prototypische Kategorie zu betrachten, die eine „logic of graded centrality“ (Herman 2008: 438) aufweist. Herausfordernde Bilderbücher weichen in einigen Hinsichten vom Prototyp ab. So sind klassische Bilderbücher wie Der Struwwelpeter (1845) von Heinrich Hoffmann in diesem Sinne sicherlich herausfordernde Bilderbücher,1 aber es ist auch möglich, wie Perry Nodelman (2015) treffsicher bemerkt, viele marktgängige Bilderbuch-Bestseller als herausfordernd zu betrachten, wenn man ihre zum Teil überraschenden Abweichungen von einem Prototypen in den Blick nimmt. Daraus folgt, dass das Phänomen der Markiertheit oder der Abweichung nicht notwendig an die Kategorie des herausfordernden Bilderbuches gebunden ist. Wie das Beispiel von Hoffmanns Struwwelpeter darüber hinaus zeigt, ist die Wahrnehmung von Markiertheit durchaus kontext- und zeitgebunden: Was zu einer bestimmten Zeit als markiert oder abweichend empfunden wurde, kann zu einer späteren Zeit als ‚normal‘ bzw. nicht-markiert eingestuft werden. Auch wenn es interessant wäre, die historische Dimension zu untersuchen, geht es uns primär um den Nachweis, dass es Phänomene der Markiertheit im Bilderbuch tatsächlich gibt. Da wir Bilderbücher als eine Folge von Text-Bild-Kombinationen2 verstehen, gehen wir im Folgenden auf Bilderbücher ein, die Markiertheit auf der Ebene des Texts, des Bilds, und der Text-Bild-Kombination aufweisen. Aus Platzgründen können wir nur eine exemplarische Darstellung leisten, auch wenn eine systematische Untersuchung durchaus wünschenswert wäre.

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