Am Himmelreich ist die Hölle los. Ilka Silbermann
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Sie starrte auf die geschlossene Tür, dann rief sie Orko und ließ ihn noch einmal zum Garten hinaus, damit er sein Geschäft erledigen konnte. Heute würde ihr Rundgang ausfallen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schloss sie diesmal anschließend sehr sorgfältig die Türen ab.
Zurück in der Küche, nahm sie die Scheine wieder in die Hand, um sie in ihrer Börse zu verstauen.
Prüfend glitten ihre Finger über das Papier. Merkwürdig, auch dieses Geld fühlte sich fest und neu an. Sie bekam eher selten am Bankautomaten frisch gedruckte Scheine. Woher hatten sie denn so viele davon?
***
„Das wird immer unheimlicher!“ Gerda bewegte sich hin und her. „Rolf! Nun sag du doch mal was dazu. Ist dir nichts aufgefallen?“
„Was sollte mir aufgefallen sein? Dass sie Wodka trinken, dürfte für Russen normal sein. Ich nehme mal an, dass sie Russen sind, bei den Vornamen.“
„Na eben! Die Vornamen!!!“
„Was meinst du?“
„Igor! Er sagte, sie solle Igor zu ihm sagen.“
„Ja und? Ist doch heutzutage üblich, dass man sich mit Vornamen anspricht. Haben wir doch auch in unseren wilden Zeiten gemacht, weißt du noch?“ Rolf verdrehte schwärmerisch die Augen. „Make love, not war! Unser Motto in den Sechzigern!“
„Du bist vielleicht begriffsstutzig! Er heißt doch Iwan, hast du vorhin gesagt. Iwan, der Schreckliche. Doch bei Sabrina gibt er sich als Igor aus.“
„Iwan – Igor! Ist doch ähnlich. Vielleicht hab ich mich heute Nachmittag verhört.“
„Das glaub ich nicht! Los, komm!“
„Wo willst du hin?“
„Na, zu den beiden! Das muss geklärt werden. Sonst hab ich keine Ruhe!“
„Du hast Ideen! Aber erst, wenn sie schlafen.“
„Lass uns die Morgenstunden nutzen. Da ist der Schlaf am tiefsten.“
„Sollen wir nicht lieber bis morgen warten, wenn sie Wodka intus haben? Dann schlafen sie vielleicht fester.“
„Nein! Heute!“
„Oh jemine! Hoffentlich geht das gut!“, jammerte Rolf.
***
Der Wecker riss Sabrina um 6.00 Uhr aus dem Schlaf. Es dämmerte, und entschlossen warf sie die Bettdecke zurück.
Orko, der vor ihrem Bett gelegen hatte, sprang auch sogleich auf und stupste wedelnd mit seiner feuchten Nase gegen ihre nackten Beine.
„Moin, mein Schatz!“, begrüßte sie ihn liebevoll und streichelte seinen Rücken. Sie ließ ihn in den Garten, schnappte sich ihre alte Jacke vom Haken, warf sie über und ging ebenfalls nach draußen, um den Hühnerstall zu öffnen.
„Moin, meine Lieben!“, rief sie den Hühnern auf der Stange zu. Doch da kam als Antwort nur ein schläfriges „Gaaaaagaaaag“ zurück. Es musste erst noch ein wenig heller werden, dann würden sie sich auf Futtersuche durch den Garten begeben.
Als sie sah, dass Orko nur noch schnüffelnd umherlief, um Spuren von Hasen oder anderen nächtlichen Besuchern zu erfassen, rief sie ihn zu sich.
Wieder schloss sie die Tür ab. Fehlt noch, dass einer von den Männern auftaucht, während ich dusche, dachte Sabrina.
Glücklicherweise ist der Jüngere nicht viel größer als ich, bemerkte sie wenig später, als sie das Fahrrad aus dem Schuppen holte. Dann musste sie den Sattel in der Höhe nicht verstellen.
„Du passt gut auf, Orko, hörst du?“, schärfte sie dem Rottweiler ein, der nun wie üblich auf dem Hof Stellung bezog, bis sie wieder zurück war.
Diesmal schloss sie die Türen ab, was sie sonst nie machte. In Ostfriesland war man in Sicherheit. Na ja, zumindest bis jetzt, gab sie zu. Denn die beiden waren ihr wirklich viel zu distanzlos, als dass sie sich sicher fühlen konnte.
Sie schwang sich aufs Rad und fuhr vom Hof. Von ihrem erhöhten Sitz aus konnte sie einen Blick auf das Benser Tief werfen, dessen Wasser wie ein Kanal durch den Schaffhauser Wald floss, vorbei an ihrem Haus, bis es in Bensersiel in die Nordsee mündete, wenn man es denn ließ. Die Sieltore öffnete man nur bei hohem Wasserstand.
An diesem entlegenen Fleck, umgeben von Feldern, verstreut liegenden Häusern und dem Benser Tief, nur einen Steinwurf entfernt, fühlte sie sich wohl, war sie zu Hause.
Hier, am Rande der Kleinstadt Esens, hatten ihre Eltern das ehemalige Bauernhaus vor vielen Jahren gekauft, umgebaut und es als passenden Ort empfunden, um ihren wilden Jahren Einhalt zu gebieten und ihr, Sabrina, eine Heimat zu geben.
Dort wuchs sie unbeschwert in Freiheit und Sicherheit auf, ging zur Schule bis zum Abitur und hatte sich um die Zukunft keine Sorgen gemacht. Schlagartig hatte dann jedoch das Schicksal zugeschlagen und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.
Sabrina befuhr nur kurz den „Wolder Weg“, einen einspurigen Landschaftsweg, der nach Esens führte. Gleich darauf bog sie, nach nicht einmal fünfzig Metern, in den „Himmelriekspad“, eine Abkürzung von etwa sieben Minuten. Lediglich für Fußgänger und Radfahrer war der Pfad geeignet, der kurvenreich durch die weitläufige Landschaft führte, Namensgeber ihrer Ferienwohnanlage war und zu Hochdeutsch „Himmelreichspfad“ hieß.
Sabrina genoss den kühlen Fahrtwind, vom Vogelgezwitscher begleitet, vorbei an den ersten Kühen, die zu dieser frühen Stunde auf der Weide dösten. Dem Winterstall entlassen, genossen sie das erste frische Grün.
Tief sog Sabrina die Luft ein. Sie liebte diesen Duft. Frisch und herb aus der Nordsee, vermischt mit dem Atem feuchten Grases und dem warmen Geruch der Kühe. In solchen Augenblicken vergaß sie nicht nur ihre finanziellen Sorgen.
Bald würden die ersten Touristen eintreffen. Die Anmeldungen konnten sich sehen lassen, und sie vertraute einfach auf zusätzliche spontane Besucher. Bisher hatte es immer geklappt. So fuhr sie fröhlich dem Supermarkt entgegen.
In der Bäckerei, die im Geschäft untergebracht war, kaufte sie frische Brötchen, und während sie Aufschnitt, Butter, Marmelade und Kaffee kaufte, überlegte sie, was sie kochen könnte. Was würden sie mögen? Sie entschied sich für Sauerkraut – preiswert, Eisbein – auch günstig und sogar im Angebot, dazu Kartoffelbrei. Ah, Milch und Zucker. Der Einkaufswagen füllte sich. Nun noch Wodka und Bier. Das würde allerdings bis zu Hause ganz schön durchgeschüttelt werden.
Heute würde sie sich an dem Frühstück beteiligen. Das war ihr Lohn. Noch ein paar Eier, und gleich darauf packte sie den Einkauf sorgfältig in die Fahrradkörbe.
Schwer beladen fuhr sie, in der Vorfreude auf ein leckeres Frühstück, zurück nach Hause.
***
„Man kann wirklich nichts entdecken, was auf ihre wahre Identität hinweisen würde. Mist!“
„Sei nicht so laut. Du könntest sie wecken,