Rizin. Lothar Beutin

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Rizin - Lothar Beutin

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früher viel geraucht. Das Nikotin in den Blättern diente zur Abwehr gegen fressgierige Insekten. Aber für den Menschen wurde der Tabak dadurch erst attraktiv. „Ob die Natur das vorgesehen hatte?“, fragte sich Schneider halb belustigt. Aber am Ende profitierte die Tabakpflanze von der menschlichen Sucht, denn deswegen wurde sie in einer Menge verbreitet, wie sie es von allein in der Natur nie geschafft hätte. Schneider dachte gerne über solche Fragen nach. Die Biologie und die Physik waren schon immer eine Herausforderung an die Philosophie gewesen.

      Die Recherchen über Rizin brachten Interessantes zutage. Tatsächlich war dieser Stoff schon für kriminelle Zwecke genutzt worden. Nicht von religiösen Fanatikern oder politischen Desperados, sondern vom Geheimdienst eines regulären Staates, des damals kommunistischen Bulgarien. Ein bulgarischer Dissident namens Georgij Markov, der im Londoner Exil lebte und dessen Aktivitäten in seiner alten Heimat Missfallen erregten, sollte auf raffinierte Weise liquidiert werden. Ein Agent wurde mit einem Regenschirm ausgerüstet, dessen Spitze in einer Injektionsvorrichtung endete. Der Agent suchte die scheinbar zufällige Begegnung mit Markov im Getriebe der Londoner Innenstadt. Er stach ihm wie versehentlich mit dem Schirm ins Bein, um mit einer Entschuldigung in der Menge zu verschwinden. Markovs oberflächliche Verletzung stellte sich bald als schwerwiegend heraus. Er bekam Vergiftungserscheinungen, Fieber, Übelkeit und Erbrechen um wenige Tage nach dem Vorfall qualvoll zu sterben.

      Vielleicht wusste der britische Geheimdienst MI5 mehr, als offiziell bekannt gegeben wurde. Jedenfalls wurde bei Markov eine ausführliche Autopsie durchgeführt. In der Einstichstelle fand man eine winzige hohle Metallkugel, die noch Reste von Rizin enthielt, das durch den Anschlag in seinem Körper freigesetzt wurde. Weniger als ein tausendstel Gramm davon reichten, um einen erwachsenen Menschen umzubringen.

      Umso erstaunlicher schien es, dass Rizinussamen so leicht erhältlich waren. Wenn man es genauer nahm, gab es allerdings viele Giftpflanzen, die einem schon vor der eigenen Haustür begegneten. Wurde nicht Sokrates durch das Gift des einheimischen Wasserschierlings umgebracht? Im alten Ägypten tötete man Delinquenten, indem man ihnen einen Extrakt aus Aprikosenkernen zu trinken gab. Wem fiel beim Anblick eines blühenden Oleanders ein, dass diese Pflanze in anderen Ländern Pferdetod hieß? Bei Rizinus kam noch etwas hinzu, es war eine Nutzpflanze, die großflächig zur Ölgewinnung angebaut wurde.

      Als Schneider die Rizinussamen in der Hand hielt, kamen sie ihm bekannt vor. Wie vollgesogene Zecken sahen sie aus, auffällig hell und dunkel gescheckt. An Halsketten, die als Hippieschmuck auf Flohmärkten in Amsterdam verkauft wurden, hatte er sie vor vielen Jahren gesehen.

      Jetzt hatte er das Rohmaterial und es gab keine Ausrede mehr, nicht mit der praktischen Arbeit anzufangen. Zumal Bea schon fragte, wann die Rizinpräparationen fertig wären. Sie hatte inzwischen Rizin über den Laborfachhandel bezogen. Eine winzige Menge hoch gereinigtes Rizin, laut Etikett in einem mit der EU eng assoziierten Land hergestellt und über Chemikalienfirmen in Deutschland vertrieben. Teurer Stoff, aber sie brauchten ihn, um die Qualität des aus den Samen präparierten Rizins zu prüfen.

      Schneider bearbeitete die Rizinussamen unter einer Sicherheitswerkbank, er musste vermeiden, dass ihm bei der Präparation das Gift ins Gesicht geblasen wurde. Unter der scheckigen Schale kamen weiße, wachsweiche Bohnen zutage, die sich leicht zu einem Brei zermalen ließen. Nach einer Weile setzte sich an der Oberfläche der Flüssigkeit eine Ölschicht ab. Es war Rizinusöl, der eigentliche Grund, warum man diese Pflanze großflächig kultivierte. Rizinusöl enthielt kein Rizin, aber unter der Ölschicht befand sich ein wässriger Extrakt, der das Rizin enthielt. Schneider passierte ihn durch einen Filter, der so feine Poren hatte, dass er keine Mikroorganismen durchließ. Auf diese Weise hatte er ein keimfreies Präparat. Das war notwendig, sonst würde der Extrakt von Bakterien, für die Rizin nicht schädlich war, schnell zersetzt werden.

      Leo Schneider hatte lange überlegt, wie er den Extrakt auf seine giftige Wirkung prüfen konnte. Für die Bakterientoxine hatte er Zellkulturen benutzt. Zellkulturen simulierten den lebenden Organismus. Es waren Körperzellen, die ursprünglich aus Organen von Menschen isoliert worden waren und in Kulturflaschen im Labor weiter gezüchtet wurden. Im Gegensatz zum lebenden Organismus waren diese Zellen im gewissen Sinn unsterblich, denn sie vermehrten sich solange, wie man sie im Labor wachsen ließ. Es gab eine Zelllinie mit dem Namen HeLa, benannt nach den Initialen einer Frau, die vor fünfzig Jahren an Krebs gestorben war. Einige ihrer Krebszellen hatte man isoliert und bemerkt, dass sie in Nährlösung wuchsen, solange man sie regelmäßig mit Nährstoffen versorgte und ihre Ausscheidungen entfernte.

      Schneider nahm eine Ampulle mit HeLa Zellen aus dem Kühltank, wo sie bei -170 °C in flüssigem Stickstoff aufbewahrt wurden. Er taute sie auf und gab sie in eine Nährlösung. Dabei fiel ihm ein, dass die Zellen von einer Frau stammten, von der seit Jahrzehnten nichts mehr übrig war. Nichts, bis auf einen Teil, der jetzt vor ihm lag und immer noch lebendig war. HeLa Zellen hatten alles, was das Leben grundsätzlich ausmachte. Sie ernährten, schieden aus und vermehrten sich. Natürlich würde aus ihnen nie wieder ein Mensch entstehen, aber wo begann das Leben eigentlich? War nicht ein Teil des Wunders, das einst zu dieser Frau gehörte, in den Zellen verblieben?

      Als er nach drei Tagen genug HeLa Zellen in den Kulturschälchen vermehrt hatte, versetzte er sie mit Verdünnungen seiner Rizin Extrakte und beobachtete die Wirkung im Lichtmikroskop. Schon vierundzwanzig Stunden später sah er, was das Rizin angerichtet hatte. Je konzentrierter die Extrakte waren, desto stärker waren die HeLa Zellen zerstört. Schneider musste seine Präparate zehntausendfach verdünnen, um an den Punkt zu kommen, wo keine Giftwirkung mehr zu beobachten war.

      Durch diese Versuche konnte er die Menge des Rizins bestimmen. Als er genug Extrakte hergestellt hatte, trennte Schneider das Rizin von allen anderen Stoffen und machte es durch eine spezielle Färbung sichtbar. Mit dem gereinigten Rizin konnte er Antikörper herzustellen. Um Antikörper herzustellen, musste er Tiere gegen Rizin immunisieren. Der Organismus der Tiere würde das Rizin als körperfremd erkennen, und als Reaktion darauf die entsprechenden Antikörper produzieren. Antikörper hatten die Eigenschaft, sich mit dem fremden Stoff zu verbinden und seine giftige Wirkung dadurch zu verhindern. Genau solche Antikörper brauchten sie für die Nachweisverfahren, die in der AG-Toxine entwickelt werden sollten.

      Zur gleichen Zeit, als Schneider an diesen Versuchen arbeitete, traf sich in einem Konferenzraum des IEI ein nicht öffentlicher Zirkel. Die Mitglieder dieses Kreises setzten sich aus Ministerialbeamten und hochrangigen Vertretern aus Polizei und Militär zusammen. Als Experten aus dem IEI waren die Professoren Griebsch und Hellman eingeladen. Der Zweck dieser Zusammenkunft lag in der Ausarbeitung von Planspielen zu möglichen bioterroristischen Anschlägen. Genau genommen ging es um Maßnahmen zur Erkennung und Abwehr schon im Vorfeld möglicher Attentate. Allerdings hatte kaum einer der Teilnehmer entsprechende Kenntnisse, die meisten von ihnen waren Juristen und Verwaltungsbeamte. In endlosen Diskussionen vermischten sich Fantasie und Wirklichkeit zu skurrilen Szenarien, die am Ende zu Papier mit dem Vermerk „Geheim! Nur für den Dienstgebrauch!“ gebracht wurden.

      Natürlich wusste niemand von ihnen, ob und welche biologischen Waffen die Terroristen einsetzen würden. Auch nicht wo noch in welcher Weise. So tappte man in den Gefilden der eigenen Fantasie herum und kam sich dabei sehr bedeutend vor. Es hieß, das Pentagon hätte Drehbuchautoren aus Hollywood beauftragt, sich Szenarien zu bioterroristischen Angriffen zu erdenken. Offenbar traute man diesen Leuten in Washington mehr Realitätssinn zu, als den Staatsbeamten und sogenannten Experten. Mit der kreativen Unterstützung von Cineasten hoffte man, auf zukünftige Bedrohungen besser vorbereitet zu sein.

      In Deutschland erwartete man entsprechend kreative Ideen von den Professoren Hellman und Griebsch. Es mangelte den beiden auch nicht an Ideen und mit der inhaltlichen Gestaltung sollten sich dann die ihnen unterstellten Wissenschaftler beschäftigen. Wozu hatte man denn die ganze Belegschaft des IEI durch die Sicherheitsüberprüfung checken lassen? So gelangte diese Aufgabe auch an Schneider. Schneider zweifelte, dass man Anschläge mit biologischen Waffen vorhersehen könnte. Dazu

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