Rizin. Lothar Beutin
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Tanja war noch mehr geladen, als Leo dann sagte: „Lass den Griebsch doch angeben. Vielleicht hilft uns das und wir bekommen für die AG-Toxine personelle Unterstützung. Vielleicht kommt Karin wieder zurück in unsere Gruppe.“ Er glaubte das aber nicht wirklich und Tanja brummelte verärgert: „Früher hättest du dir das nicht so einfach bieten lassen.“
„Hast du wirklich Lust darauf, dass dein Name im Zusammenhang mit Biowaffen in der Zeitung steht?“, fragte Leo. „Da fällt mir ein, wolltest du nicht im Sommer nach New York fliegen? Ist dir klar, auf welchen CIA Listen du erscheinst, wenn dein Name in diesem Zusammenhang in der Presse erscheint?“ Bei diesem Stichwort fiel Schneider Sam Stevenson ein, ein Gastwissenschaftler aus den USA, ohne eigenes Projekt, der in den letzten Wochen durch die verschiedenen Abteilungen des IEI geschleust wurde.
Tanja überlegte und ihr fielen Drewitz und die Stasiakten aus der Glinkastraße ein, die es nie gegeben hatte, oder nicht mehr gab. „Stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht, als ich den Artikel gelesen habe. Unsere Arbeit hat sich so verändert. Früher waren wir stolz, wenn unsere Sachen veröffentlicht wurden und jetzt? Wir können nichts mehr publizieren, ohne das Krantz, Hellman und Griebsch bestimmen wann, wo und was.“
„Aber auch weil wir keine Lust haben, ins Fadenkreuz von irgendwelchen Spinnern zu geraten“, fügte Leo hinzu. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, las er den Artikel erneut gründlich Wort für Wort. Nein, weder er noch Tanja waren darin erwähnt. Er war froh, dass Griebsch so eitel gewesen war, sich selbst und nur sich selbst als den größten Rizinexperten aller Zeiten dargestellt zu haben.
Tanja ließ die Sache trotzdem keine Ruhe. Am nächsten Tag fragte sie Schneider, ob er nicht ein anderes Projekt für sie hätte. Etwas, von dem man nicht morgen wieder in der Zeitung lesen müsste. Schneider brauchte Tanja nicht mehr so oft für die Rizinarbeiten und war damit einverstanden. Es gab schließlich noch ein zweites Projekt, das sie bearbeiten mussten: Botulinumtoxin, kurz BoNT. Da Tanja gerne mit Bakterien arbeitete, ermutigte Leo sie, sich darin einzuarbeiten und die Clostridien, die das BoNT produzierten, zum Wachsen zu bringen. Vielleicht konnten sie dadurch auch mehr über die undichte Stelle im Labor herausfinden. Sie beschlossen, mit niemandem über das BoNT Projekt zu reden und alle Aufzeichnungen darüber nicht auf dem Institutsrechner, sondern nur auf einem USB-Stick zu speichern. Das war eigentlich verboten, aber die Leute aus der IT-Abteilung kümmerten sich gewöhnlich nicht um solche Einzelheiten. Die hatten schon genug Sorgen, das Netzwerk am Laufen zu halten. Hellman und Griebsch schienen Leo und Tanja nicht als versiert genug, um selbst virtuell schnüffeln zu können.
Tanja war der einzige Mensch im IEI, dem Leo Schneider noch vertraute. Da sie sich schon so lange kannten, gingen sie miteinander um wie ein altes Ehepaar, gerade weil nie etwas zwischen ihnen gelaufen war. Nach dem veröffentlichten Interview mit Griebsch hatte Schneider Bea in Verdacht, ihm die Informationen zugesteckt zu haben. Schlimm genug, wenn es so war, aber noch schlimmer, wenn sie auf eine andere, unbekannte Art abgehört wurden. Vielleicht würden sie es ja doch noch herausbekommen. Wenn es bald ein Interview über Botulinumtoxine gäbe, wüssten sie zumindest Bescheid.
Von einem Kollegen aus Leipzig hatte Schneider Clostridienstämme bekommen, die verschiedene Typen von Botulinumtoxin produzierten. Allerdings konnte man die Clostridien nicht in der normalen Atmosphäre wachsen lassen, weil sie gegenüber Sauerstoff empfindlich waren. Außerdem brauchten diese Bakterien Eiweiß als Nahrungsquelle. Tanja musste die Clostridien deshalb in eine Fleischbouillon einimpfen und in Gastöpfen bebrüten, in denen der Luftsauerstoff durch Stickstoff ersetzt worden war. Unter diesen Bedingungen gediehen sie gut und produzierten auch das Botulinumtoxin. Tanja gefiel die neue Aufgabe, vielleicht erinnerte sie die Arbeit mit den Clostridien, die nur auf Leichen wuchsen, an ihre frühere Stelle in der Gerichtsmedizin. Jedenfalls konnte sie den Gestank, der von diesen Bazillen ausging, erstaunlich gut ertragen.
Währenddessen führte Schneider seine Experimente mit Rizin weiter fort und hielt Beatrix nur so weit wie nötig darüber auf dem Laufenden. Aber er war aufmerksam. Wenn er Bea traf, beobachtete er sie und suchte nach Anzeichen, die ihm verdächtig vorkamen. Im Büro ließ er sie mitten im Gespräch sitzen. Er sagte, er müsste Unterlagen holen, um kurz danach plötzlich wieder aufzutauchen. Er wollte sie dabei ertappen, wenn sie in seinen Protokollen wühlte oder in seinen Computerdateien. Aber Bea verhielt sich unverdächtig. Der Blick ihrer grauen Augen blieb unbefangen und hielt dem seinem stand, als er sie fragte, ob Griebsch die Sachen aus dem Interview von ihr hatte. Leo Schneider wusste nicht mehr, wem er glauben sollte.
Natürlich drängelte Bea immer mehr, ohne Antiserum konnte sie keine Nachweismethode entwickeln und Hellman setzte sie weiterhin unter Druck. Schneider wusste von Ronalds Zeitvertrag und wie sehr diese Situation Ronald und Bea belastete. Er selbst hatte bis zum Alter von neununddreißig Jahren unter solchen Bedingungen gearbeitet und trotzdem hinderte ihn ein unbestimmtes Gefühl daran, ein positiveres Bild von Bea zu gewinnen. Leo Schneider forschte weiter an der Entwicklung des Rizinantiserums, weil ihn interessierte, ob es funktionieren würde, so wie er es sich vorgestellt hatte. Bea redete ihm nach dem Fiasko mit ihren Immunisierungen nicht mehr in seine Versuche rein.
6.
Horst Griebsch war in Hochstimmung, nachdem das Interview in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Sein Name war jetzt der eines Experten. Sogar aus dem Ministerium rief man ihn an, man interessierte sich für seine Meinung. Hellman hatte es sich nicht verkniffen, in einer Runde mit Arnold und Krantz über ihn zu lästern, aber Krantz schien Griebsch das Interview nicht weiter übel zu nehmen und kommentierte es auch nicht. Arnold, der ein Gespür für Machtfragen hatte, hielt sich an Krantzens Linie.
Krantz schien ihn endlich zu respektieren, dachte Griebsch. Er fühlte sich ermutigt, seinen eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Bald ergab sich eine neue Gelegenheit dazu. Anfang Februar erhielt Griebsch eine Einladung zu einem Vortrag bei einer internationalen Konferenz, veranstaltet von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Das Thema über Bioterrorismus schien genau auf ihn zugeschnitten: The bioterrorist threat as a challenge to the modern society. Die Liste der Referenten war beeindruckend. Tagungsort war die alte Kaiserstadt Kyoto in Japan. Genau seine Kragenweite. Allerdings musste er sich seine Teilnahme noch von Krantz absegnen lassen. Er rief im Sekretariat des Direktors an und bekam zu seiner Überraschung sofort einen Termin.
Nachdem er Krantz die Einladung vorgelegt hatte, schaute ihn dieser etwas spöttisch an, um zu bemerken: „Und Hellman, ist der nicht eingeladen?“
Griebsch riss seine Augen auf. Es klang, als ob Krantz Hellman und nicht ihn zu dieser Tagung schicken wollte. Krantz räusperte sich, schwieg und schien durch die Einladung, die er immer noch in der Hand hielt, hindurchzublicken. Griebsch hatte sich gerade einige Worte zurechtgesetzt, mit denen er Krantz bearbeiten wollte, als dieser ihn ansah und sagte: „Gut, einverstanden. Ich gehe davon aus, dass Sie das IEI bei dieser wichtigen Tagung entsprechend vertreten, Herr Kollege! Einige der Teilnehmer kenne ich persönlich, also machen Sie uns keine Schande.“
Bevor Griebsch noch etwas sagen konnte, hatte Krantz schon seinen Antrag auf Dienstreise unterschrieben, ihm die Hand gegeben und damit das Gespräch beendet. Griebsch stand vor der Tür des Präsidialbüros und schlug vor Freude seine Hände zusammen. „Herr Kollege!“, hatte Krantz gesagt. Arnolds Sekretärin, Frau Schupelius, lief im Flur an ihm vorbei und schaute ihn erschreckt an. Beschwingt wie auf Flügeln eilte Griebsch zurück in sein Büro.
Jetzt galt es, Nägel mit Köpfen zu machen, und zwar sofort. Die Konferenz sollte schon in drei Wochen stattfinden. Horst Griebsch ließ sich von der Institutsverwaltung seine Reise organisieren und bestellte Beatrix Nagel umgehend zu sich. Von der Tagung erzählte er ihr nichts, sondern erbat sich von ihr eine Präsentation zu den Rizinarbeiten. Beatrix akzeptierte