Rizin. Lothar Beutin

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Warum auch? Für so etwas brauchte man Fachleute, teure Geräte und Speziallaboratorien. Die täglichen Nachrichten zeigten, dass diese Leute sich mit Schusswaffen und Sprengstoff vollauf begnügten. Beides stand ihnen doch unbegrenzt zur Verfügung. Woher die Waffen kamen, darüber sprach man selten. Wahrscheinlich, weil sie in den Ländern gefertigt wurden, die sich im Krieg mit den Terroristen befanden.

      Solche Gedanken spielten in den Planungen des Zirkels jedoch keine Rolle. Hellmans Idee war, dass Terroristen Wasserspender mit Botulinumtoxin vergiften könnten. Daraus ergaben sich viele Fragen. Wie lange würde das Gift im Wasser stabil bleiben? Wie viel musste man hineinschütten, damit ein Schluck tödlich war? Wie viele würden daran sterben, bevor man wüsste, woher die Bedrohung kam? Dergleichen Planspiele gab es in Hülle und Fülle. Griebsch entwickelte ähnliche Ideen zu Rizin. Auch dazu gab es natürlich viele Fragen.

      Schneider bekam diese geistigen Ergüsse auf seinen Schreibtisch und sollte sie mit Zahlen wissenschaftlich untermauern. Er empfand diese Vorstellungen gleichermaßen krank wie sinnlos. Natürlich war alles denkbar, aber das wirkliche Leben bot mehr Möglichkeiten, als die Papierwelten dieser Männer zuließen. Andere Kollegen aus dem IEI zeigten mehr Engagement und arbeiteten fleißig an ihren Hausaufgaben. Natürlich alles „Geheim, nur für den Dienstgebrauch.“ Wer diese Schriftstücke alles zu Gesicht bekam, wusste niemand. Vielleicht waren darunter Leute, die man damit erst auf entsprechende Ideen brachte? Gerade solche Leute stellten das größte Risiko dar. Geltungssüchtige Menschen wie Hellman, dem der Kamm schwoll, als ihn ein General als Biowaffenexperten titulierte. Eitle Gecken wie Krantz, die darauf warteten, durch einen Anschlag oder eine Seuche in ihren düsteren Orakeln bestätigt zu werden. Simpel gestrickte Angeber wie Griebsch, die hofften, im Fahrwasser einer großen Aktion einmal als Held ins Licht der Öffentlichkeit zu gelangen.

      Es gab andere, die auch so dachten wie Schneider. Einer von ihnen war ein bekannter Experte, der manchmal auch im Fernsehen auftrat. Die Zahl der Wissenschaftler in der Biowaffenforschung war seiner Meinung nach schon viel zu groß. Das Risiko für Anschläge würde dadurch nur steigen. Ein Biologe, der sein Wissen für kriminelle Ziele einsetzen wollte, wäre gefährlicher ein Terrorist, der nichts von Biologie verstand. War nicht ein Laborant aus Fort Detrick verdächtigt, der Absender der Anthrax Briefe gewesen zu sein? Man konnte ihn nicht mehr fragen, denn er hatte, nach dem offiziellen Bericht, vor seiner Verhaftung seinem Leben ein Ende gesetzt.

      Am IEI war es mittlerweile riskant, solche Ansichten offen auszusprechen. Es gab überall Leute, die für Nachrichtendienste arbeiteten. Man wusste nicht wer, aber die Frau eines Kollegen, die als Sekretärin beim BND angestellt war, hatte erzählt, in allen größeren Betrieben wären V-Leute beschäftigt. Die sollten einschätzen, wer ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellte. Ketzerische Gedanken, wie Schneider sie hatte, gehörten schon dazu.

      Eigentlich hatte das Beispiel der DDR doch gezeigt, dass die Bespitzelung der Menschen dem Staat nichts erbrachte. Bis 1989 hatte man 180 km Akten in der Stasizentrale gesammelt, war aber nicht in der Lage gewesen, den eigenen Untergang vorauszusehen. Solche Gedanken ließen Schneider kopfschüttelnd zurück, als er über den Zirkel, die BIGA und die ganzen Szenarien, die dort kursierten, nachdachte. Natürlich alles „Geheim, nur für den Dienstgebrauch!

      5.

      Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten hatte Schneider das Rizin soweit präpariert, um es für die Herstellung von Antiserum einzusetzen. Aber jetzt ergab sich ein neues Problem. Antikörper gegen Rizin gab es nirgendwo zu kaufen und es wurde bald klar, warum. Um Antiserum herzustellen, musste man Tiere mit Rizin immunisieren. Durch die giftige Wirkung des Rizins starben die Tiere, bevor sie überhaupt Zeit hatten, Antikörper zu bilden. Etwa so, wie es Georgij Markov in London ergangen war. Schneider versuchte es mit Rizinverdünnungen, aber ohne Erfolg. Nachdem er die Tiere mit dem verdünnten Rizin immunisiert hatte, musste er feststellen, dass die Menge des Giftes nicht ausgereicht hatte, um das Immunsystem der Tiere zu stimulieren. Auf diese Art bekam er keine Antikörper.

      Aber es gab doch schon Impfungen gegen bakterielle Toxine! Schneider informierte sich, wie man es bei Tetanustoxinen, die Wundstarrkrampf auslösen, gemacht hatte. Der Trick war, das Toxin zu verändern, damit es nicht mehr giftig war, man nannte das Produkt ein Toxoid. Damit konnte man problemlos immunisieren. Das Toxoid musste aber dem Tetanustoxin noch so ähnlich sein, dass Antikörper erzeugt wurden, die auch mit dem ursprünglichen Toxin reagierten. Das klang einfach, aber war die eigentliche große Kunst. Ein mit dem Toxoid geimpfter Mensch wurde nicht krank, bildete aber Antikörper, die ihn bei einer Infektion auch gegen das tödliche Tetanustoxin schützen konnten.

      Genau so musste es doch auch für Rizin funktionieren. Um ein Rizin Toxoid zu erzeugen, kam eine Reihe von Chemikalien infrage. Schneider musste ihre Wirkung ausprobieren und mit seinen Zellkulturen prüfen, ob das Rizin nach der Behandlung noch giftig war. Das war ein langer Weg und es war keinesfalls sicher, dass er am Ende neutralisierende Antikörper gegen das Gift in den Händen halten würde.

      Bea drängelte. Sie brauchte das Antiserum, um den Nachweistest für Rizin aufzubauen und sie suchte den schnellen Erfolg. Schneider erzählte ihr von seinen Vorstellungen. Bea kannte sich mit Toxinen nicht aus, hatte aber schnell begriffen, worum es ging. Schneider führte Beas Nervosität auf ihren übersteigerten Ehrgeiz zurück. Er kannte die wahren Gründe nicht. Bea musste Griebsch und Hellman regelmäßig Bericht erstatten. Griebsch verlangte das von ihr als Vorgesetzter. Da er selbst wenig von der Sache verstand, ließ er sich leicht mit Allgemeinplätzen zufriedenstellen. Mit Hellman war es nicht so leicht. Hellman wollte Erfolge der AG-Toxine für sich vermarkten und Griebsch und Schneider kaltstellen. Hellman hatte Bea versprochen, ihren Mann Ronald mit einer Planstelle zu versorgen, wenn sie ihm Informationen lieferte, die seinem Vorhaben nutzten. Sie wusste, dass Hellman genug Einfluss bei Krantz hatte, um Ronald die Stelle zu verschaffen. Ihrem Mann erzählte sie nichts davon. Ronny war ehrgeizig. Er hatte schon einen Wissenschaftspreis gewonnen und hätte es abgelehnt, mithilfe seiner Frau und Hellmans Protektion eine Festanstellung zu erreichen.

      Dem argwöhnischen Griebsch war bewusst, dass er für Krantz neben Hellman nur die zweite Garnitur war. Das kränkte ihn. Hatte er nicht stets versucht, sich bei Krantz in ein gutes Licht zu setzen? Für Krantz hatte er Artikel über biologische Waffen geschrieben und darauf verzichtet, dass sein Name als Autor genannt wurde. Überhaupt war er Krantz jederzeit zu Diensten. Aber es half nichts, der Mediziner Krantz und der Veterinär Hellman verachteten den Biochemiker Griebsch. Umso stärker, je mehr er sich bei ihnen anbiederte. Griebsch spürte das aus den Worten und der Körpersprache der beiden. Krantz schien in ihm nur einen nützlichen Idioten zu sehen. Hellman würde immer eine Nummer größer sein als er.

      Irgendwann hatte Griebsch begriffen, dass es keinen Sinn machte, Krantz einfach nur hinterherzulaufen. Er beschloss, von nun an zweigleisig zu fahren. Äußerlich blieb er der loyale Beamte, in Wirklichkeit verfolgte er seine eigenen Pläne. Er würde sich die Anerkennung schon holen, die ihm zustand. Griebsch erhöhte den Druck auf Beatrix und gab ihr zu verstehen, dass Schneider sie nur ausnutzen wolle. Er versprach, ihr bei der nächsten Gelegenheit die Leitung der Arbeitsgruppe zu übertragen. Schließlich gehörte diese AG doch zu seinem Kompetenzbereich. Beatrix sollte ihn nur noch genauer darüber informieren, was in der AG vor sich ging. Vor allem genauer und früher als Hellman. Der Moment würde kommen, an dem er diese Informationen für seine Karriere nutzen könnte.

      Für Bea schien das perfekt. Hellman wollte sich für ihren Mann einsetzen und Griebsch förderte ihre Karriere. Sie sollte ihm dafür doch nur Bericht erstatten und das war völlig normal. Selbst, wenn es Schneider nicht passte. Schneider galt bei Griebsch und Hellman nicht viel, von ihm hatte sie kaum etwas zu befürchten. Bald würden sie und Ronny gemeinsam die AG-Toxine managen.

      Schneider war ganz in seiner Arbeit mit dem Rizin aufgegangen. Es machte fast soviel Spaß wie in alten Zeiten. Er hatte eine

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