DAS OPFER. Michael Stuhr

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DAS OPFER - Michael Stuhr

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      „Über Lana?“

      „Über alles.“ Diego versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. „Aber nicht am Telefon. Kann ich zu dir kommen?“

      „Hast du Lana schon angerufen?“

      „Mache ich jetzt sofort. Kann sie mitkommen?“

      „Natürlich! Wann könnt ihr hier sein?“

      „In einer guten Stunde etwa. Nein, besser anderthalb. Okay?“

      „Okay!“, bestätigte Lou. „Bis dann.“

      „Bis dann!“ Diego drückte das Gespräch weg und wählte Lanas Nummer. Sie meldete sich sofort.

      09 INTERNATIONAL HOUSE

      Gnadenlos werde ich aus tiefstem Schlaf gerissen. Biggy ist über mir und hat meinen Oberkörper hoch genommen, als sei ich ein Baby. Atemlos umarmt und drückt sie mich.

      „Lana! Da bist du ja wieder! Mein Gott was siehst du blass aus! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Was war denn nur mit dir? Was ist denn passiert? Wo warst du?“ sprudelt es aus ihr heraus, während sie mich wieder und wieder an ihren Busen zieht.

      Einen Moment lang werde ich weich und mir steigen wieder Tränen in die Augen. Sich in mütterlicher Umarmung auszuheulen scheint mir plötzlich sehr verlockend. Aber ich wüsste nicht, wie ich Biggy mein Gefühlschaos wirklich erklären könnte. Also versuche ich sie zu vertrösten: „Morgen Biggy, ja? Lass mich einfach erst Mal schlafen. Morgen erzähle ich es dir, aber jetzt nicht.“

      Ich befreie mich sachte aus ihrer Umarmung und lasse mich wieder zurücksinken. Die Decke ziehe ich mir über die Schultern, um mich vor ihren fürsorglichen Blicken zu schützen. „Ich muss einfach mal schlafen ja?“ murmele ich.

      Enttäuscht zieht Biggy sich von mir zurück und sieht mich etwas maulig an. Ein verzagtes Lächeln legt sich über ihr Gesicht. „Na ja“, grinst sie, „ich gebe zu, das war jetzt wohl ein Überfall. Aber morgen erzählst du mir wirklich alles, ja?“

      „Ja“, murmele ich und drehe mich zur Seite. Gleichzeitig überlege ich halb verschlafen, was ich ihr überhaupt erzählen könnte von all dem. Ich will da gar nicht drüber nachdenken und auch nicht darüber, dass ich immer noch in voller Montur im Bett liege. Das ist mir alles zu viel. Ich will im Moment keine Entscheidungen mehr treffen. Ich will nur noch schlafen.

      Biggy wirtschaftet leise im Zimmer herum. Im Moment will sie nichts von mir. – Gut!

      Schließlich rastet die Tür ins Schloss und ich atme erleichtert auf. Nun brauche ich mich nicht mehr zu verstellen und gebe meine Tiefschlafpose auf. Etwas entspannter ruckele ich mich bequem zurecht, da fällt mir ein, dass Biggy wohl zum Abendessen runter gegangen ist.

      Rasch stehe ich auf, ziehe meine Klamotten aus und schlüpfe in mein Schlafshirt. Schlechtes Timing: Ich spüre einen leichten Druck in meinem Unterbauch, also schnell noch über den Flur gehuscht, Pipi gemacht und dann wieder ins Bett.

      Ein leichtes Ziehen in der Magengegend erinnert mich daran, dass ich heute außer ein paar kalten Pancakes noch nichts gegessen habe. - Vielleicht doch wieder anziehen und runtergehen?

      Nein! Allein die Vorstellung, Biggy gegenüber zu sitzen und endlose Fragen zu beantworten, lässt mich derartig schlapp werden, dass ich mir die Decke noch höher über den Kopf ziehe. Sofort spüre ich einen leichten Luftzug an meinen nackten Füßen. – Das alte Spiel, das ich kenne, seit ich vierzehn war. Lana zu lang, Decke zu kurz! Ich versuche es zu ignorieren. Einfach nur schlafen. – Aber das geht nicht mit kalten Füßen, also zappele ich ein bisschen herum, bis alles so ist, wie ich es brauche um mich zu entspannen. Nun könnte ich weiterschlafen – statt dessen fange ich an im Kopf mit Biggy Gespräche zu führen. „Hör mal Biggy, das ist so ...“

      ‚Hallo Lana! Du willst schlafen! Du kannst hier niemandem etwas erklären!’

      Oh mein Unterbewusstsein, es meldet sich mal wieder. – Toll! – Was hast du mir denn zu sagen?

      ‚Lass es Lana! Du redest mit dir selbst!’

      Stimmt, aber ich muss doch noch dieses eine Argument ...

      ‚Nein musst du nicht, Lana! Du liegst allein in deinem Bett und niemand – ich wiederhole – niemand hört dir zu!’

      Ich gebe auf, drehe mich auf die andere Seite und schlafe schließlich wirklich wieder ein.

      Biggy ist am nächsten Morgen schon früh auf. Ich stelle mich schlafend, um allen Fragen aus dem Weg zu gehen. Sie ist wirklich eine Gute. Aus leicht geöffneten Augenlidern sehe ich sie mit ägyptisch anmutenden Bewegungen auf Zehenspitzen durchs Zimmer schleichen. Ganz offensichtlich will sie mich nicht wecken. Prima! – Ich weiß nämlich immer noch nicht, was ich ihr erzählen könnte. Andererseits kann ich mich aber auch nicht ständig schlafend stellen, sonst wachse ich hier im Bett noch fest.

      Erst als ich mir sicher bin, dass Biggy wirklich weg ist, stehe ich auf. Ein großer Zettel liegt auf ihrem Bett. In schwungvoller Handschrift steht dort in rot: Mach dir keine Sorgen Lana! Bin mit Hercule unterwegs! Komme erst spät abends wieder!

      Während ich diese Botschaft lese, spüre ich ein leises Ziehen in meiner Brust. Heute ist Sonntag! Mir wird klar, dass dies ein tolles Wochenende mit Diego hätte sein können. Und stattdessen ...

      Die alte Traurigkeit übermannt mich wieder. Gleichzeitig bin ich richtig neidisch auf Biggy und Hercule. Die beiden können ihr Zusammensein unbeschwert genießen. Werden Diego und ich das wohl auch irgendwann einmal können? Seit ich ihn kenne, gab es immer wieder irgendwelche Schwierigkeiten.

      Schnell hole ich mein Handy vom Schreibtisch und wähle Diegos Nummer. Wieder nur die Mailbox – Merde! Wütend werfe ich das Ding mit viel zu viel Schwung auf mein Bett.

      Erschrocken halte ich die Luft an: Das Handy hüpft unkontrolliert auf der Matratze herum und bleibt wippend an der Bettkante liegen. Schnell schnappe ich es mir und lege es auf den Schreibtisch. - Ich muss mich besser beherrschen! Man soll sein Glück im Handy-Kaputtmachen nicht überstrapazieren.

      Was für ein Mist! In der Zeit, seit wir uns kennen, war ich viel zu oft sauer auf Diego. Warum ist das so? Ganz klar: Es passieren immer wieder Dinge, die ich Diegos Volk anlastete und dann natürlich auch ihm.

      Verdammt! Ich will doch nur mit Diego glücklich sein! Ich liebe ihn, aber immer wenn ich mir gerade sicher bin, mit seiner Fremdartigkeit zurecht zu kommen, passiert etwas Neues, und ich renne wieder vor eine Wand.

      Genauso jetzt: Erst habe ich mir nur Gedanken über die blödsinnigen Anschuldigungen von Alicia gemacht. Nun frage ich mich, warum Diego immer noch festgehalten wird, und schon wieder schleicht sich dieses leise Misstrauen in meine Gedanken. Im nächsten Semester wollten wir beide uns eigentlich eine eigene Wohnung suchen. Wird das überhaupt möglich sein, mit ihm zusammen zu wohnen? Mit was werde ich dann noch alles konfrontiert?

      Mechanisch suche ich mir frische Klamotten aus dem Schrank und schlurfe niedergeschlagen zum Waschraum.

      Nach einer heißen Dusche geht es mir schon ein bisschen besser. Mein Magen macht sich knurrend bemerkbar und ich fahre hinunter in den Speisesaal zum Brunchbüffet. Netterweise haben die hier sonntags etwas

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