DAS OPFER. Michael Stuhr
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Alles passt zusammen! Die letzten Zapfen rasten ein und die Tür, hinter der die Erkenntnis liegt, schwingt auf. „Alicia ist meinetwegen umgebracht worden“, stelle ich tonlos fest.
„Ja!“ Lou biegt in den Bancroft Way ein. Wir sind bald da.
„Sie hat mich angegriffen, und jetzt ist sie tot.“
„Du musst für jemand sehr wichtig sein“, stellt Lou fest.
Wieder beginnt das Räderwerk in meinem Kopf zu wirbeln, und die nächste Tür öffnet sich. „Könnte Diego das veranlasst haben? – Das mit der Überwachung? Das mit Alicia?“
„Vermutlich schon“, meint Lou. „Die nötigen Beziehungen hätte er - aber das würde er nicht tun!“
„Und du?“, bohre ich weiter. „Könntest du so etwas auch befehlen?“
Ich sehe, wie ihr Körper sich anspannt. „Mein Vater war ein König“, sagt sie mit spröder Stimme. „Ich habe Alicia nicht umbringen lassen!“ Sie schaut mich kurz an. „Da sind andere Interessen im Spiel.“
Ich möchte ihr so gerne glauben.
Lou nimmt Gas weg und biegt langsam in die Zufahrt zum I-House ein.
„Ist es nicht schlimm genug, dass die Jäger euch verfolgen und töten?“, bricht es aus mir heraus. „Fangt ihr jetzt auch noch an, euch gegenseitig zu bekämpfen?“
Lou stoppt den Wagen direkt vor dem Haupteingang. „Das haben wir immer schon getan. Deshalb wollte mein Vater die beiden Königreiche ja vereinigen. – Genau deswegen sollte ich ja Diego heiraten. Die Königreiche des Pazifiks und des Atlantiks sollten zusammengeführt werden, damit diese ewigen Rivalitäten aufhören.“
„Rivalitäten?“ Ich höre selbst, wie schrill und hässlich meine Stimme klingt, aber ich kann es nicht ändern. Es will einfach raus. „Ich werde beobachtet und verfolgt - man will uns in den Selbstmord treiben - eine Tote taucht auf, und da sprichst du von Rivalitäten? Man hat Alicia aus dem Spiel genommen? - Tut mir Leid, Lou, aber in meiner Sprache drückt man das anders aus. Stalking, Terror und Mord würden es da schon eher treffen. – Himmel! Was seid ihr denn für Leute? Auf was habe ich mich da bloß eingelassen.“
Lou sitzt stumm hinter dem Lenkrad. Sie umfasst es so fest, dass die Knöchel ihrer Hand hell hervortreten. Da ist nichts mehr in ihrem Gesicht, was an eine Prinzessin erinnert. Alles mädchenhaft Weiche ist daraus verschwunden. Was ich sehe, ist die starre Maske einer Kriegerin, die bereit ist, den Kampf aufzunehmen. Auch den Kampf gegen mich, wenn es sein muss. „Ja, du hast Recht!“, nickt sie. „Es gibt Entführer und Mörder in meinem Volk. Bei euch Luftatmern ist so etwas natürlich völlig undenkbar. Du hast natürlich jedes Recht uns alle dafür zu verurteilen.“
Es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich hasse mich für meine unbedachten Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen habe. „Bitte, Lou, versteh doch ...“, fange ich an.
„Jetzt nicht!“ Sie macht eine abwehrende Handbewegung. „Ich muss jetzt erstmal selbst nachdenken.“
Ich taste unsicher nach dem Türöffner. „Entschuldige“, bringe ich leise hervor. „Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Geh jetzt!“, fordert Lou. „Ich rufe dich morgen an.“
„Ja!“ Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es wird Zeit. Zum Abschied lege ich Lou kurz die Hand auf die Schulter, aber ich merke, wie sie sich unter meiner Berührung versteift.
Als ich aussteige, lasse ich die Tür so sanft wie möglich ins Schloss schwingen. Lou wirft mir noch einen kurzen, unendlich traurigen Blick zu und fährt an. – Ich bin total fertig! Ich wollte sie wirklich nicht verletzen, aber sie muss doch erkennen, dass auch ich unter einer fürchterlichen Anspannung stehe. Ich kann ihr im Moment auch nicht helfen, verdammt noch mal!
Ich sehe dem Wagen nach, während ich mein Handy herauskrame. Wieder versuche ich Diego zu erreichen. Das Handy am Ohr stolpere ich die Stufen hinauf, aber es ist immer noch nur die Mailbox dran. Mist! Wo ist er? Wird er immer noch verhört?
Mit dem Fahrstuhl fahre ich in den vierten Stock und eile zu unserem Zimmer. Vielleicht ist Biggy ja da. Vielleicht weiß sie ja etwas.
Ungeduldig schließe ich den Raum auf und stürme hinein. Er ist leer.
Mein Zimmer im I-House ist mir in den paar Tagen schon ein richtiges Zuhause geworden. Die Versuchung ist groß, mich unter die Bettdecke zu kuscheln und der feindlichen Welt da draußen einfach den Rücken zuzudrehen.
Den Zimmerschlüssel immer noch in der Hand sinke ich auf die Bettkannte und starre zu Boden. Am liebsten würde ich mich einfach hinlegen und schlafen, schlafen, schlafen! Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage, aber einen sehnsüchtigen Blick gönne ich meiner kleinen Zuflucht schon, während ich mich aufraffe und Lous Bücher auspacke.
Bald jedoch wird mir klar, dass ich viel zu unruhig bin, um mich auf die Bücher zu konzentrieren. Immer wieder muss ich daran denken, wie Lou sich eben versteift hat, als ich ihr die Hand auf die Schulter legen wollte. Wie traurig und angespannt sie mich angesehen hat, bevor sie losgefahren ist. Verdammt! Jetzt habe ich mich auch noch mit ihr verzankt. Das darf doch nicht wahr sein.
Tränen der Wut schießen mir in die Augen. Ich habe Schuldgefühle wegen meiner blöden Äußerungen, aber was soll ich denn noch alles aushalten? Es geht einfach nicht mehr! Es reicht! Wie soll ich denn das alles kapieren, wenn mir jeder nur so halbe Sachen hinwirft, so wie Lou vorhin?
Ich schaue auf meinen Wecker. Ob Diego wohl schon frei ist? Ich rufe ihn an, aber wieder meldet sich nur die Mailbox. Merde! Ich muss unbedingt mit ihm reden. Sicher war das alles nur ein dummes Missverständnis. Nein, er hat mich nicht gekauft, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Auch mit Lou werde ich mich wieder vertragen. Bestimmt wird sie einsehen, dass ich es nicht böse gemeint habe und dass ich vor lauter Angst und Streß einfach durchgedreht bin.
Ja, so werde ich es machen! Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Diego und Lou sind mir die liebsten Menschen hier. Ich muss kichern, nein schlimmer, ich muss laut lachen. „Das sind mir die liebsten Menschen hier“ murmele ich und pruste los. – Zwei Darksider. - Die liebsten Menschen! Guter Witz, Lana!
Ich gehe zum Fenster und öffne es. Die Luft tut mir gut und das Gefühl der Enge verschwindet. Plötzlich schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Wie benommen stütze ich mich an der Fensterbank ab. Ich sehe Studenten die auf Bänken sitzen und sich unterhalten, ich sehe Fahrradfahrer auf den Campuswegen radeln. Ich sehe einen Vogel, der piepsend zum Ast einer Kiefer fliegt. Das alles nehme ich wie in Zeitlupe wahr. Benommen schließe ich die Augen und öffne sie langsam wieder. Ich höre alle Geräusche wie durch Watte, denn das Bild von Alicias verbranntem Körper taucht vor meinem inneren Auge auf. Wie neonfarbene Lettern einer Leuchtreklame in der Nacht blitzt wieder die Frage in meinem Hirn auf: Wer hat Alicia auf so grausame Art und Weise umbringen lassen? Ist