Frequenzwechsel. Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

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Frequenzwechsel - Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

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verlebte damals der größte Teil der Schüler zu Hause, die meisten Eltern waren finanziell nicht in der Lage, Ferienaufenthalte außerhalb zu buchen, ganz davon abgesehen, dass es zur Zeit der Weimarer Republik, das heißt also, in den „glücklichen zwanziger Jahren“, Urlaubs-Arrangements heutigen Stils gar nicht gab. Normalerweise verreiste nur der wohlhabende Teil der Bevölkerung. Auch diese Sparte Menschen machte zur Hauptsache bei uns im Osten in den landschaftlich schön gelegenen Badeorten an der Ostpreußen-Küste, im Samland und auf den Nehrungen Station. Auch in dieser Hinsicht wurde die Abgeschnürtheit meiner Heimat-Provinz vom übrigen Reich deutlich, anders wären sonst wahrscheinlich auch die ostdeutschen Menschen eher zu größeren Urlaubsexkursionen angeregt worden. Aber auch daheim konnten die Ferien schön sein. Im Sommer trieb man dann je nach Lust und Laune allerhand Wassersport, es gab ja außer der Memel noch etliche andere Gewässer um Tilsit herum, die ein Baden und Schwimmen nicht zur Mangelware werden ließen. Ich selber hatte zum anderen gute Verbindung zu Seglern oder Ruderern, konnte also auch an den nassen Freuden, ohne ein Klubmitglied zu sein, teilnehmen. Ein Bekannter von mir besaß z. B. ein eigenes Klepper-Faltboot, mit dem wir auch mehrtägige Fahrten in Tilsits schöner Wasserlandschaft machen konnten. Dadurch lernte ich meine Heimatstadt und deren reizvolle Umgebung aus einer anderen neuen Perspektive kennen und lieben. Recht eigentlich festigten erst diese erfreulichen Wasserfahrten meinen bislang noch etwas undeutlichen Berufswunsch und Entschluss, mein späteres Leben schwankenden Schiffsplanken anzuvertrauen. Außerdem geriet durch diese Art Freizeitbetätigung mein ehemaliges Mitmarschieren im Preußenbund auch stark ins Abseits, und das nahm dem Abschied von den „Kampfgefährten“ vielleicht den letzten Rest einer etwaigen Dramatik. Ein weiteres starkes Moment der Freizeitgestaltung - die Radioberieselung - steckte derzeit noch in den Kinderschuhen, war in den „kalten“ Monaten des Jahres das Theater mit seinem für das mittelgroße Tilsit verhältnismäßig reichhaltigen Angebot an Opern, Operetten und Schauspielen, außerdem an je einem Sonntag per Monat eine Matinee mit klassischer Musik. Das jeweilige Ensemble machte im Allgemeinen seine Sache, jedenfalls nach Auffassung der örtlichen Kunstbeflissenen, gut. Wir Schüler sahen uns das Gebotene je nach Geschmack und Laune und natürlich entsprechend unserem Taschengeld-Bestand zu verbilligten Eintrittspreisen vom Stehparkett oder aus der „Bullerloge“ an. Als mein Vater 1924/25 als Stadtverordneter zur Theaterkommission gehörte, standen ihm darob jeden 3. Tag im Monat zwei Logenplätze zur kostenlosen Benutzung zur Verfügung. Das war natürlich für meine Eltern und uns beiden Söhnen eine willkommene Gelegenheit zu unendlich vielen Theaterabenden. Mir persönlich lagen damals Operetten mit ihren beschwingten Weisen und lockeren Texten am meisten, viele der damals gehörten Melodien daraus sind mir bis heute geläufig geblieben, speziell von Kalmán, Lehar und Johann Strauss. Erwähnenswert aus den Tagen der „Goldenen 20“ wäre noch die Mitgliedschaft von uns Schülern der oberen Klassen in der „Technischen Nothilfe“. Sie wurde von der Schule befürwortet. Zweck ihres Vorhandenseins war die nützliche Einsatzfähigkeit von Helfern bei eventuellen Streiks staatlicher Versorgungsbetriebe - es wurde in der Weimarer Republik oft und viel gestreikt, mehr als heute - und jeder zukünftige - sprich „Streikbrecher“ - wurde in Kursen für irgendeine Hilfstätigkeit vorgeschult. Mich machte man zum staatlich geprüften Rangierer im Eisenbahndienst. Ich wurde auch tatsächlich bei zwei Eisenbahner- und einem artfremden Landarbeiterstreik eingesetzt. Wir Schüler reicherten durch derlei fragwürdige Einsätze (sie wurden ziemlich anständig entgolten) unser meist spärliches Taschengeld an, sahen also etwaige Streiks als Verdienst und Schulausfall mit anderen Augen an, als Staat und „Rebellen“. Nachdenkliche unter uns (und ihren Eltern) sahen im „Streikbrechen“ natürlich auch Risiken und Gefahren, längeren Schulausfall, Unfallträchtigkeit usw., ich sehe heute darüber hinaus darin eine Diskrepanz, dass wir die Republik und deren Regierung zwar nicht sonderlich schätzten, aber durchaus freiwillig dazu bereit und willens waren, uns für sie bedingungslos einzusetzen. Mein unter den geschilderten Begebenheiten und Umständen voranschreitendes Blühen und Gedeihen dürfte nun noch insofern eine Lücke aufweisen, wenn ich nicht auch dem Thema „Begegnung der Geschlechter“ einige Zeilen widmete. Tilsit ging allgemein der Ruf voraus, in seinen Mauern eine Unzahl schöner und schönster Mädchen zu beherbergen. Das mag ein wenig objektives Vorurteil gewesen sein, aber wie dem auch sei, es wartete jedenfalls eine Menge erblühter oder verblühter Rosen darauf, gepflückt zu werden, und sie warteten nicht vergeblich. Nach damaligem Brauch gab es in Tilsit (wie in Klein- und Mittelstädten derzeit üblich) eine „Rennbahn“ - es war eine Straßenseite in der Hauptgeschäftsstraße der Stadt, der Hohen Straße, kurz „Hohe“ genannt. Da lief an jungem Volk sommers oder winters ab schicklicher Nachmittagsstunde auf etwa 500 Meter Länge alles herum, was sich als Männlein und Weiblein zu treffen bzw. kennen zu lernen wünschte. Solche Absichten waren Flüggen und Halbflüggen, Armen und Reichen sowie Dummen und Schlauen unter ihnen zu eigen, die meisten der Bekanntschaftskandidaten sahen im Übrigen begehrlich und proper, also gut gewaschen und gekämmt aus, und besonders die Mägdelein trachteten danach, sich möglichst gut zu verkaufen. Augenkontakt miteinander war üblicherweise die erste Ansprechstufe, alsdann, bei einiger Erfolgsaussicht wandelten die Herren oder solche, die es sein wollten, im Schlagschatten der erwählten Damen brav hinterher, bis diese ihren Kurs von der Rennbahn nach den häuslichen Gefilden hin absetzten. Das war dann die beste Gelegenheit, seinen Schwarm mit gebührender Höflichkeit anzusprechen und gegebenenfalls auch mal Körbe zu empfangen. In der Regel gingen Schülerinnen der höheren Töchterschulen - es gab in Tilsit drei davon - mit den ihrem Alter entsprechenden Gymnasiasten, es gab kaum Ausnahmen, die „Höheren“ glaubten das wohl ihrem Ruf schuldig zu sein, aber Studenten, junge Offiziere der Reichswehr oder gar ein junger Schauspieler vom hiesigen Kulturpalast waren ihnen noch angenehmer, als die Lernenden. Bedarf und Nachfrage deckten sich im großen ganzen, ein kleiner Überschuss vielleicht bei den Herren, demzufolge nicht so begehrte Mannsleute – leider gehörte ich auch zu diesem Kreis - zu Damen niederer Gesellschaftsschichten – alles nach damaligen sozialen Rangfolgebegriffen gesehen - ihre Zuflucht nehmen mussten. Natürlich nur, so man wollte, und ich wollte. Ich hatte im Übrigen auch recht bald herausgefunden, dass die schon berufstätigen, meist etwas älteren Mädchen längst nicht so schwierig und zickig wie die höheren Töchter waren, sie waren auch „großzügiger“ mit ihren guten Gaben als jene. Was hat man schon von einem keuschen Engel, an dem fast alles tabu ist, die kleinen Teufelchen des freien Marktes waren ja viel irdischer und realer als jene. Selbstverständlich gab es auch noch andere Möglichkeiten des Sichkennenlernens, als die Rennbahn, Tanzstunden, Festivitäten, Familienbekanntschaft und Sportvereine, aber wegen eines vielleicht falschen Arrangements meinerseits, ich zog eine größere mehrwöchige Wanderfahrt mit dem Preußenbund einem Tanzkurs meines Schülerjahrgangs vor, beides zusammen überstieg die finanziellen Möglichkeiten meines Vaters - waren solide Gelegenheiten zur Bekanntschaft mit Engeln vertan. Daher also war ich als Nichttänzer bzw. Autodidakt in der Kunst Terpsichores für die eitlen, auf Effekt bedachten höheren Töchter der Stadt ziemlich uninteressant. Die, die ich aus der hohen Sparte begehrte, war sowieso längst vergeben, die Trauben hingen hoch, ergo war ich zu Kompromissen gezwungen. Das Schmachten nach der Unerreichbaren war zwar immer vorhanden, aber frühstücken konnte ich schließlich auch anderswo. Unsere allgegenwärtigen Lehrer waren im Übrigen hinsichtlich Tanzstunden ihrer Zöglinge und Feten im passenden Rahmen als Erziehungspotential von gewisser Größe auch durchaus bereit, dann und wann irgend worin ein Auge zuzudrücken, aber das Ausscheren eines Knaben aus der traditionellen Linie wurde ihrerseits nicht gern gesehen. Umgekehrt wiederum forderte das orthodoxe Denkschema meiner professores meinen an sich vorhandenen passiven Widerstand noch mehr heraus und konnte meine Abneigung gegen die Schule eher steigern als abbauen. Seltsam erschien mir außerdem, woraus Pauker etc. ihr Wissen um eine Missetat eines Schülers, z. B. grobe Verletzung der Spielregeln, schöpften. Zugegeben, meine in ihrer Art fröhlichen engeren Freunde, zum Teil ehemalige Mitschüler, die mit Erreichung des Einjährigen von der Schule abgegangen und meist ins kaufmännische Berufsleben eingetreten waren, sind bestimmt keine Tugendapostel gewesen. Wir Clique-Brüder entdeckten auf einmal - ich hatte inzwischen die Oberprima erreicht - welch herrliche Droge zur Stimmungsförderung der Alkohol sein konnte. Aus kleinen Anfängen auf diesem Gebiet steigerten wir uns allmählich und mit oder ohne besondere Anlässe zu ziemlich strammen Umtrunk-Schlachten, bei denen ich es bei relativ guter Haltung zu einer erklecklichen Aufnahmefähigkeit brachte. Bevorzugte Waffen im Kampf waren konzentrierte Alkoholika. Nach entsprechender Einnahme dieser Medizin vollbrachten wir dann im besäuselten

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