der Exhibitionismus des Podiums gestört, die Zurschaustellung vor dem Publikum. Eigentlich war die Musik etwas Eisiges, Fremdes, Fernes, das jeder Zudringlichkeit entzogen war. Sie hatte von ihr die ungeteilten Wonnen des Geistes erwartet, aber die Musik hatte etwas zweideutig Verführerisches, einen scheinheiligen Körper. Musik war falsch. Vielleicht hatte sie sie auch immer falsch beurteilt. Oder war sie vielleicht einfach unmusikalisch? Auf welche Dummheiten sie doch kam! Sie lächelte in den lichten Morgen hinein. Der Himmel war durchsichtig, von Glanz durchschossen, ein betäubender Rausch erfaßte sie, je länger sie hineinstarrte. Sie wartete immer noch auf etwas, etwas, das ihre Illusionslosigkeit besiegen könnte. Sie ahnte ein Glück, das ihr wohl nie zukommen würde, das aber existierte, ebenso notwendig existierte, wie es notwendig war, daß es gedacht wurde. Etwas, das von allem Mißtrauen befreit war, so leicht, daß es sogar nichts von seiner Gewichtslosigkeit mehr wußte. Eine Feder, ein Zirruswölkchen von Glück. Sie erinnerte sich an eine Melodie von Schubert, die dem nahekam, was sie fühlte, aber nicht einmal dieser Meister hatte es getroffen. Doch in ihrer Hilflosigkeit, es darzustellen, wurde sie plötzlich selbstbewußt. Sie lachte ungläubig. Sie stand auf und alles, was sie anfaßte und ansah, schwamm um sie wie in einer sehr klaren Flüssigkeit. Der Spiegel schwebte an ihr vorbei, Schranktüren öffneten und schlossen sich, bunte Kleidungsstücke flogen an sie heran, die Bürste bewegte sich energisch durch ihre Haare. Sie summte vor sich hin, während sie den Kaffee kochte, Brötchen strich, das Tablett in den Salon trug, ein buntes Service aus dem Glasschrank nahm. Sie setzte sich zeremoniös nieder und aß vorsichtig ihr Frühstücksei, ohne zu kleckern. Der Kaffee erfrischte sie. Sonnenschein überschwemmte die breite Parkettfläche zwischen den hohen Fenstern und dem Eßtisch. Sonnenstäubchen schwebten in den Strahlen aufblitzend auf und nieder. Als sie dann ihre erste Zigarette rauchte, überfiel sie der Gedanke, daß sie Herrn Müller Unrecht getan, ihn beschämt und gequält hatte. Sie würde ihm zur Abbitte das Frühstück in sein Zimmer bringen und die Kündigung zurücknehmen. Ja, das würde sie tun, auch wenn es sie Überwindung kosten würde! Aber merkwürdigerweise empfand sie keinen Unwillen, als sie das Wasser aufsetzte, Brot schnitt und das Geschirr zusammenstellte. In ihr war eine geschäftige, freudige Ruhe, während sie das Sieden des Wassers überwachte, den Kaffee aufgoß, das Ei weich kochte, Wurst und Käse schnitt und sorgfältig auf dem Teller ordnete. Sie schob alles auf dem Tablett zurecht und packte es mit beiden Händen. Es war ein ungewohntes Gewicht, mit allem, was sie darauf versammelt hatte: Honig, Marmelade, zwei Sorten Käse, Wurst, Ei, Weißbrot, Schwarzbrot, Brötchen, Kaffee, Zucker und Milch, den Schinken nicht zu vergessen. Er war ein großer Kerl, der gewiß Hunger hatte. Damit kam sie an das Ende des Flurs, und die Tür zu Herrn Müllers Zimmer bot sich als braune, abweisende Fläche dar. Sie verharrte zögernd einen Augenblick, dann setzte sie das Tablett mit einer Ecke auf die Klinke und klopfte entschlossen. Keine Antwort. Sie rief. Stille. Dann öffnete sie kurzerhand und trat ein. Der Widerschein der rötlichen Ziegelwände, die von der Morgensonne hell beleuchtet waren, fiel über das Bett, aus dem Herr Müller hing. Sein Kopf und sein rechter Arm baumelten an der Bettseite, Blut war dem Mund entströmt und bedeckte rostig geronnen Kinn, Wange, Laken und Fußboden. Er war tief in der Nacht gestorben. Er starb aus Ärger, Verzweiflung, Einsamkeit, Krankheit und eigentlich aus Protest. Aber genau genommen wollte er doch nicht sterben, aber als er sich dagegen aufbäumte, war der Drang in ihm zu groß geworden, es zog ihn abwärts wie eine Lawine. Und als er endlich nach Fräulein Cybulka rufen wollte, drang nur ein Röcheln aus seiner Brust und ein Blutsturz erstickte seine Stimme. Fräulein Cybulka warf das Geschirr nicht hin. Sie wendete sich vorsichtig um und setzte das Tablett auf den Ecktisch. Dann ging sie abwartend auf den Toten zu und ihr war, als habe sie an diesem Morgen einen ganzen fünfhundertseitigen Roman mit großer Geschwindigkeit gelesen und schon wieder vergessen. Herrn Müllers Augen waren geschlossen, sein Gesicht war lehmfarben. Sie war nicht entsetzt, nicht fiebrig erregt, wie sie es selbst erwartet hätte, eine feine Kälte befiel sie, breitete sich vom Rückgrat über ihren Körper aus und verlieh ihrem Blick eine grausame Sachlichkeit. Sie sah ihn eigentlich zum ersten Mal richtig an und nun, als sie mit forschender Neugier seine abgespannten Züge betrachtete, bemerkte sie unter den Falten und Bartstoppeln eine strenge Schönheit. Sie ließ sich langsam auf den Stuhl am Fußende des Bettes nieder und sah in ihren Schoß, um einem merkwürdigen Gefühl auf die Spur zu kommen. Ihre Hände waren zum Gebet verschränkt. Sie riß sie auseinander, stand eilig auf, ging zum Waschbecken und kehrte mit einem nassen Lappen zurück. Sie kauerte sich vor das Bett und wischte sanft das Blut von Gesicht, Hals und Arm. Sie scheute sich nicht, ihren Arm unter den Nacken des Toten zu schieben, hob mit Mühe den Körper an und ließ ihn auf das Kissen fallen. Ihre Schläfen klopften. Irgendetwas Entscheidendes mußte jetzt geschehen, etwas Endgültiges, ein Abbruch, ein Aufbruch. Aber nichts regte sich. Herr Müller war tot. Sie hatte an dem Gewicht gespürt, wie ihn die Erde anzog, aber er war doch noch da, so nah und greifbar. Und nun lag er für sich, einsam wie ein Kind in seiner Wiege. Und als sie das dachte - wie ein Kind, wie ein Kind! - erschreckte sie eine schlimme Wehmut, die aus ihren Eingeweiden brach. Nachdem sie die Tränen abgewischt hatte, wurde sie wieder ganz kalt. Sie versank in der Stille, nicht einmal die Wanduhr tickte. Die war schon seit langem kaputt. Nur vom Hof her kamen erstickte Geräusche, Zwitschern, Flügelsausen. Sie wartete. Sie wußte nicht worauf. Sie schaute auf die Bettdecke, unter der sich der große Körper abzeichnete und ab und zu, erschreckt von einem Knacken im Zimmer, einem Rauschen im Hof, wandte sie den Blick auf den im Kissen versunkenen Kopf, als sollte er eine Erklärung dafür hergeben. Das Licht wurde einmal matter, dann wieder hellte es sich ruckartig auf. Ihr war, als stünde ihr Kopf allein im Raum, gedankenlos, mondhell und starr, während ihr Leib zerging. Sie seufzte, und als sie infolge einer verwirrten Beziehung zu sich selbst merkte, daß jemand seufzte, seufzte sie auch und seufzte stärker, um sich vor der anderen hervorzutun, nun aber mehr wie eine Klage, etwas, was zwischen Stöhnen und Sprechen lag, aber das, was sie sagen wollte, kam nicht heraus, darüber klagte sie stöhnend und wäre gern ein ägyptisches Klageweib gewesen mit einem Schatz alter Trauerformeln, aber ihr fiel nichts ein, und dafür schrie sie nun wirklich, legte sich auf die Woge des Schreis und fühlte, wie sich ihr ganzer Körper unter einer wollüstigen Erregung zusammenzog. Aber während sie schrie und stöhnte oder dem Widerhall des Schreis lauschte, der wie eine Sirene in ihrem Kopf schrillte, erzeugte sich unter ihr ein Wirbel, in den der Schrei hineinfiel und verhallte. Sie hob den Blick vom Schoß, in dem die Hände wieder gefaltet lagen und fragte sich, ob sie recht gehört hatte, hatte hier jemand geschrien? Nur allmählich wurde ihr klar, daß sie es selbst gewesen war. In ihrer Verwunderung darüber lag doch ein heimliches Einverständnis, das sich mit tiefer Erschöpfung mischte. Sie fühlte sich so herunter und bemitleidenswert wie der Tote, und das gab ihr das Recht, sich neben ihm aufs Bett zu strecken und übergangslos einzuschlafen. In ihrem Schlaf geschahen sogleich außerordentliche Dinge. Musik ertönte mit einer Gewalt und schneidenden Süße, wie sie sie noch nie vernommen hatte. Sie selbst war das Instrument, aber ihr war der Klang dann doch zu aufdringlich und überzogen. Im gleichen Augenblick beugte sich Herr Müller über sie mit geschlossenen Augen und auf eine gewisse bittere Art lächelnd, packte er sie, wie man ein Cello zwischen die Knie nimmt, und sein Gesicht versank in ihrem wie eine Wolke eine andere durchdringt. Die Musik wurde ein breit dahinströmender Fluß, Posaunen tönten, donnernde Gewitter sprühten Blitze. Und als sie träumte, daß sie dies alles träumte, fiel sie in einen neuen Traum, der von unleugbarer Wirklichkeit war, denn ein riesiger Walfisch, der in muskulösen Wendungen silbern im Meer aufleuchtete, schoß unter einer gläsernen Eisfläche daher, auf der sie dahingleitend entfloh und versuchte die Kruste von unten her aufzubrechen. Zunächst war sie kopflos, mit wachsender Sicherheit entstand aber aus der Jagd eine Art Spiel, ein Flirt, ein Sichsuchen und -verlieren, dabei gab sie nicht acht und fiel auf einmal in ein Wasserloch unter eine kribbelnde Menge von Fischen, aus der sich wie ein Nebel, aber mit sanfter Nachdrücklichkeit allmählich der Silberrücken des Wals hob, an dem sie sich mit aller Macht festhielt. Und nun sank der Fisch mit ihr abwärts in eine ungeheure Wassertiefe, die gläsern um sie strömte. Sie empfand keine Angst, aber dennoch wuchs in ihr eine Beschwernis und Bekümmertheit, die ihr Tränen entpreßten, während der Fisch mit gleichmäßiger Geschwindigkeit sank und sank. Bald wußte sie nicht mehr, ob sie hinabtauchte oder aufstieg, sie lag auf dem gewaltigen Rücken in einer bewegungslos bewegten Leere. Da erfaßte sie ein Zittern und Zähneklappern, von dem sie erwachte. Sie lag bäuchlings auf dem Toten. Sie rannte aus dem Zimmer. Dann faßte sie sich, ging in den Salon, öffnete den Glasschrank, ergriff die Cognacflasche,