als die ewig Radio spielenden und Mädchen auf die Bude schleppenden Studenten. Er hatte noch nie Besuch gehabt. Er wandte die Teile des Notenständers verlegen in seinen Händen. Von der Höhe seiner mächtigen Gestalt blickte er ergeben herab auf die unleidliche Person in dem verschossenen braunen Kleid, das sie von ihrer Großmutter geerbt haben mußte . "Ich werde es wieder ganz machen," sagte er ohne Überzeugung. "Ach, geben Sie her. Sie sind doch zu nichts nütze, als Sachen zu zerbrechen und Krach zu machen. Was wollen Sie überhaupt?" Er reichte ihr die Holzteile mit ausgestrecktem Arm und zog einen zerknitterten 100-Mark-Schein aus der Hosentasche. "Die Miete." "Wieviel ist es denn?" "95 Mark, dachte ich," sagte er erschreckt und befürchtete eine Erhöhung. Aber es war wirklich nur ihre Vergeßlichkeit. Seufzend wendete sie sich einem vielstöckigen Vertiko zu, zog eine Schublade auf und suchte aus einer Zigarrenschachtel, die noch von ihrem Vater stammte, ein paar Münzen hervor. "Mir fehlen noch 80 Pfennig. Aber Sie müssen mir sowieso noch die Tasse ersetzen, die Sie vorige Woche zerbrochen haben." "Schon gut," brummte er störrisch und schickte sich zum Rückzug an. "Was heißt: schon gut? Habe ich die Tasse auf dem Gewissen oder Sie? Und der Notenständer?" "Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!" murmelte er abwehrend und schloß die Tür hinter sich. So schnell seine wackeligen Beine es erlaubten, verzog er sich durch den dämmrigen Flur in sein Hinterzimmer. Bloß einem weiteren Disput ausweichen! Er wußte nicht, ob er nicht doch einmal ausfallend werden würde. Seine Stube ging auf den Hof hinaus. Nur durch das Oberfenster sah man den Frühlingshimmel über dem Gefängnis der Brandmauern und Dächer. Er setzte sich auf das knarrende Bett, beugte sich nach vorn und ließ die Hände zwischen den Beinen baumeln. Eigentlich machte er sich nicht viel aus den Unfreundlichkeiten der Zimmerwirtin, und doch fühlte er sich bedrückt. Er war so einsam wie ein Hund. Seine Frau war vor acht Jahren gestorben, seine Tochter kümmerte sich nicht um ihn, sein Sohn lebte in Australien. Kaum, daß er zu Weihnachten eine Karte schrieb. Er fühlte sich grenzenlos müde. Auf dem Hof tönte Kindergeschrei. Ein Knistern an der Tür, die sein Zimmer mit dem Schlafzimmer von Fräulein Cybulka verband, ließ ihn aufblicken. Ein Stück Papier schob sich langsam durch den Spalt, blieb liegen, eine Ecke noch unter der Leiste. Er sah stumpf hinüber, konnte keinen Gedanken fassen. Endlich stand er auf, schlurfte hinüber und bückte sich. "Sie sind gekündigt", las er, als er den Zettel auseinandergefaltet hatte, "Sie verlassen das Haus am 1. Mai bis 12 Uhr mittags." Hastige Schriftzüge bedeckten riesig das ganze Papier. So, das war geschafft! Sie erhob sich erleichtert vom Boden und zitterte noch ein wenig. Sie schlich sich durch das Schlaf- und das Eßzimmer in den Salon, drehte den Schlüssel an der Tür zum Flur um, setzte sich trotzig an den Flügel und übte "Lieder ohne Worte". Tom toom tom hämmerte sie, welch seliger Klang, auf und davon, und durch den Plafond schwang sie sich aus dem grauen Dämmer der portierenverhüllten Pracht der Gründerzeit hinaus ins Licht. Ihr Spiel übertönte die Tapsschritte des gräßlichen Herrn Müller, das zaghafte Klopfen an der Tür. Tam tamtam. Nachher wußte sie wirklich nicht, ob Herr Müller angekrochen gekommen war oder nicht. Als sie ihm abends im Flur begegnete, hätte sie ihn gern danach gefragt, aber das war unmöglich. Er schob sich gruß- und blicklos an ihr vorbei. Sie stand mit dem Spiegelei in der Pfanne vor der Küche und sah seinen breiten Rücken eingerahmt von der Balkontür, vornübergebeugt im blassen Dämmerlicht.... "Wie ein Orang Uttan," dachte sie gehässig. Bald darauf ging sie ins Wohnzimmer, öffnete die grünbespannten Türen des Bücherschranks und sah im Konversationslexikon - 30-bändig - nach, wie Orang Utan geschrieben wird. Die Nacht ist so alt und doch immer noch unbekannt. Sie preßt sich so dicht an den Schlaflosen, daß er ihr Gesicht nicht sieht. Sie ist so ungeheuerlich groß wie das Maul des Walfischs, aber sie hat keine Zähne. Für alle hat sie eine unhörbare Melodie, das Lied ohne Worte, das Lied des Schweigens und Vergessens, der Schwermut und des Verzichts. Fräulein Cybulka lag im Bett und wagte nicht sich zu rühren. Schon das Geräusch ihres Atems erschreckte sie. Sie streckte die nackten Arme auf der Bettdecke aus. Es war so ruhig nebenan. Wenn er doch husten würde, dann könnte sie ihre Ohrenpfropfen nehmen und einschlafen. Aber es war ja still. War er denn überhaupt da? Keine Helligkeit war unter der Tür zu sehen. "Herr Müller, haben Sie das Licht im Flur ausgemacht?" Seltsam und fremd schwebte ihre Stimme ins Dunkel und stand vor ihren Augen wie eine Leuchtschrift. Etwas knackte im Nebenzimmer und durch die eröffnete Stille drängte sich eine Antwort, die sie aber nicht mehr wahrnahm, denn Herr Müller existierte in eben diesem Moment nicht mehr, er war ausgestrichen. Seine Erwiderung hatte ihn umgebracht. Und nun entfaltete sich die Leere um sie wie ein Ballon und bald spürte sie das Zucken und Quellen, mit dem er nach oben strebte. An einem dünnen Seil baumelnd entschwand sie in der Finsternis. Fest hielt sie die Arme auf die Bettdecke gepreßt. Das Muster trat in die Haut ein und Leichenstarre zog sich von den Fingern in die Arme und Schultern. Sie lag wie angeschraubt. Und unter ihr war der Abgrund. Sie schüttelte den Kopf, sie war doch noch wach. "Herr Müller," wollte sie rufen, doch sie besann sich. Aber es war schon zu spät. Herr Müller erschien in der Zwischentür, die sich teilte wie Rauchschwaden, mit glühenden Augen und Muskeln wie ein Preisboxer brach er ein und griff nach ihr, aber im gleichen Augenblick tötete ihn die Ironie Fräulein Cybulkas. Sie lächelte bitter. Eisig stand der Raum im grauen Schein des blinden Fensters, das sinnlos in der Höhe schwebte. Sie sah sich um und erkannte, daß alle Möbel fort waren, alles war leer, nur das Bett blieb ihr. Daran hatte sie ein traurigsüßes Vergnügen. Tränen benetzten ihre Augen. Aber bevor sie auskosten konnte, daß sie nichts hatte, nichts, kein Geld, kein Haus, kein Talent, keinen Menschen, nicht einmal eine Katze, war alles um sie her wieder braun und nüchtern. Aus dem Dunkel lösten sich die Konturen des Kleiderschranks und der Kommode, der Spiegel blinkte und selbst das Tapetenmuster trat ihr dicht vor die Augen, als ginge es ab und legte sich wie ein Netz um sie. Es war so still... Wenn er nun sterben würde! Eine Mischung aus Neugier, Schadenfreude und Sadismus erhob sie. Wenn er nun sterben würde und ich läge hier, ganz ruhig, kalt, ohne daß es mich anginge. Sie hatte nicht einmal Herzklopfen bei dem Gedanken. Der Tod war eine gute Lösung und so feierlich. Man fühlte sich groß und erhaben, man vergaß die unglücklichen Umstände, Sorgen und Kleinigkeiten, das Keifen der Nachbarn und die Angst vor dem Morgen. Sie erinnerte sich noch deutlich an den Tag, an dem man ihre ertrunkene Freundin Elli im obersten Teil des Friedhofs begraben hatte. Nie hätte sie geglaubt, daß dieses Ereignis so viele Menschen angehen würde. Sie hatte gedacht, sie müßte die einzige sein. Zahllose schwarzgekleidete, schwitzende Gestalten schleppten sich durch die streng riechenden Gänge der Taxushecken auf die Höhe hinauf. Alte Weiber, knochige Männer mit verdrossenen Mienen. Sie ging klein und stumpf unter der Herde der Befrackten, sie hatte ihr braunes Kleid an, ein schwarzes besaß sie nicht, und fühlte sich unbehaglich und bedeutungsvoll. Sie war ihre beste, vielleicht ihre einzige Freundin gewesen. Aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Der Schmerz war Monopol der Verwandten. Von den Trauernden kannte sie nur die Eltern. Beim Kondolieren gab ihr der Vater die Hand mit einem leeren Blick, als hätte er sie noch nie gesehen. Und dann trieb sie mit den anderen fort, die bald die Sprache wiederfanden, von dem Preis der Kränze und der Aufschrift auf den Schleifen murmelten, durch die engen Gassen, die die schwarzen Hecken ließen, an verunkrauteten Gräbern, bemoosten Leichensteinen und vergilbtem Marmor vorbei. Durch die Lücke, die eine Pappelallee schnitt, sah sie den Fluß blinken, bleiern und tot unter dem von Hitze entfärbten Augusthimmel. Wie an dem Abend, an dem Elli beim Baden verschwunden war. Niemand wollte glauben, daß sie ertrunken sein könnte. Aber wo konnte sie sonst geblieben sein, als die Nacht schon eingebrochen war? Ihre Kleider lagen an der Stelle, an der sie sich ausgezogen hatte, und niemand begriff, daß die Sachen liegenbleiben würden, wenn sich keiner entschlösse, sie mitzunehmen. Das rosa Kunstseidenkleid, Unterrock, Schlüpfer, Büstenhalter, Schuhe, Handtuch. Sie spürte Verlangen, sie ihr in den Fluß nachzuwerfen. Aber schließlich packte sie jemand mit herzzerreißender Pedanterie zusammen und brachte sie gebündelt zu den Eltern. Sie war dieser Person böse. Nie würde sie diese feierliche Erregung verstehen. Aber später befiel sie die gleiche Stumpfheit. Der Tod war eine Tatsache wie alle anderen. Wieviele Leute hatte sie inzwischen schon zu Grabe geleitet! Einkaufen, sich waschen, arbeiten, reden, essen, trinken, sterben, es war doch alles gleich. Das Schlimmste war, daß ihr auch ihr Klavierspiel gleichgültig wurde. Sie spielte und spielte, ohne hinzuhören. In ihren Ohren summte die Stille, während die Hände über die Tasten wanderten. Das erschreckte sie und trieb sie vom Klavierhocker aus dem Haus. Aber auch draußen umfing sie die Leere. Sie saß allein neben anderen einsamen Gestalten auf der Parkbank, während der Staub über die Wege wirbelte. Man nannte sie im Haus verschroben und schlampig. Wenn schon! Ihr war es egal.