Der Hügel. Martin Renold

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so vermutete er, hatten zu Hause große Bibliotheken, und ihre Väter waren Akademiker und sprachen eine oder gar mehrere Fremdsprachen. Dasselbe war auch von ihren Müttern, die aus der gehobeneren Gesellschaft stammten, zu vermuten.

      „Weißt du“, hatte Hans viele Jahre später zu ihm gesagt, als sie sich wieder einmal getroffen hatten, „die anderen Mitschüler haben alles von ihren Eltern mitbekommen. Wir beide mussten uns alles ganz allein erschaffen.“

      Ja, so war es gewesen. Arthur erinnerte sich an eine Episode in einer bereits höheren Klasse. Alle mussten in der Deutschstunde einen Vortrag halten. In den Stunden vorher waren die Meisten schon drangekommen. Sie alle hatten interessante Themen gewählt, trugen etwas vor über ein Gebiet, das in der Schule nicht gelehrt wurde, zum Beispiel über die Geschichte eines Schlosses in Graubünden oder über einen bekannten Gelehrten, Maler oder Musiker. Arthur hielt, als die Reihe an ihm war, einen Vortrag über den Buddhismus. Das Fach Religion war auf dieser Stufe freiwillig. Weil Arthur der Einzige seiner Klasse war, der den Religionsunterricht besuchte, musste er dies zusammen mit den Freiwilligen aus der Parallelklasse tun. Der Religionslehrer hatte interessant und lebendig über alle fremden Hauptreligionen referiert, auch über den Buddhismus. Das hatte ihn angesprochen, und er war sich sicher, später, wenn er Geld haben würde, um sich Bücher zu kaufen, die ihn mehr interessierten als die Schulbücher, würde er sich weiter in die Welt des Buddhismus vertiefen. Nicht dass er etwa den Wunsch gehabt hätte, seine christliche, reformiert-evangelisch geprägte Religion, in der er aufgewachsen war, aufzugeben. Nein, das würde er gewiss nie tun. Und er tat es auch nie.

      Zuhause hatte Arthur keine Sachbücher, aus denen er Material für einen Vortrag hätte zusammenstellen können. Er brachte zwar immer vier Bücher, so viele, wie man sich auf einmal ausleihen konnte, aus der Schulbibliothek nach Hause, aber das waren die Klassiker, Schiller, Goethe, Lessing, Gottfried Keller und Konrad Ferdinand Meyer, alles Bücher, welche die anderen zu Hause in den Bibliotheken ihrer Eltern hatten. Arthur verschlang diese Bücher, die ihm eine unbekannte Welt zeigten.

      Er schämte sich eigentlich ein wenig, dass er in seinem Vortrag nur mehr oder weniger das wiedergab, was er im Religionsunterricht gehört hatte. Zum Glück wussten die andern davon nichts. Aber dann geschah etwas, das ihn blamierte. Er hatte vom Nirwana gesprochen, und als in der anschließenden Diskussion eine Mitschülerin fragte, ob denn das Nirwana gleichzusetzen sei mit einer Lethargie, wusste er keine Antwort. Er hatte das Wort Lethargie zum ersten Mal gehört.

      Zum Glück gingen gerade in diesem Moment die Sirenen los. Einer der Schüler musste aufs Dach steigen, wo aus Holz eine Art Hochstand aufgebaut worden war. Die vier Schüler, die aus verschiedenen Klassen bestimmt worden waren, mussten mit Feldstechern in alle vier Himmelsrichtungen schauen. Erst wenn fremde Flugzeuge gesichtet wurden, mussten die Schüler in den Keller hinabsteigen. Sonst ging der Unterricht wie gewohnt weiter.

      Nach der kleinen Unruhe, die durch den Lärm der Sirenen und das Hinausgehen des Schülers entstanden war, sagte der Deutschlehrer:

      „Eigenmann, Ihre Mitschülerin hat Sie gefragt, ob das Nirwana mit vollkommenem Vergessen zu vergleichen sei.“ Arthur war dem Lehrer im Stillen dankbar, dass er offenbar seine Verlegenheit von vorhin bemerkt hatte und nun die deutsche Bedeutung für Lethargie verwendete.

      Bei dieser Gelegenheit wurde es Arthur wieder deutlich bewusst, dass er aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, in der nicht mit solchen Fremdwörtern gesprochen wurde. Das hing ihm an wie ein schwerer Rucksack, den er nie würde ablegen können. Sein Vortrag war, wenn er es recht bedachte, sogar ein Plagiat gewesen, und dann noch das!

      Schon zwei Jahre vorher hatte er sich überlegt, was einmal aus ihm werden würde, wenn er die Matura gemacht haben würde. Daran, dass ihm dies gelingen würde, zweifelte wohl kein Lehrer, nicht einmal der neue Lateinlehrer, der in der dritten Klasse unterrichtete. Doch konnte er seinem Vater zumuten, ihm ein Studium in Zürich zu finanzieren? Es gab zwar Stipendien, aber die deckten bei Weitem nicht die Kosten eines Studiums in Zürich, wo er täglich mit dem Zug hinfahren oder sich in der großen Stadt ein Zimmer suchen müsste. Die Ausgaben für die Schulhefte und Bücher in der Kantonsschule waren schon hoch genug für das Budget seines Vaters. Alljährlich gab es zwar einen Büchermarkt auf dem Vorhof der Schule, an dem die älteren Schüler ihre Bücher, die sie nicht behalten wollten, verkauften. Da wurde gefeilscht wie auf einem arabischen Basar. Das eine oder andere Buch konnte Arthur so erwerben, aber manche Bücher waren trotzdem für ihn nicht erschwinglich und wurden ihm von anderen Schülern, die einen höheren Preis zahlen konnten, weggeschnappt. So musste er doch noch viele Bücher in der Buchhandlung kaufen. Unter anderem auch einen teuren Schulatlas. Daheim gab es allerdings einen großen „Dierckes Weltatlas“, den sein Vater in der Sekundarschule gebraucht hatte und am Ende der Schule mitnehmen durfte. Er war schon ziemlich abgegriffen, die eine oder anderes Seite fiel auch schon heraus, und in Asien, Afrika und Südamerika gab es weiße Flecken, bei denen gedruckt stand „Unerforschtes Gebiet“. Die Grenzen der Länder in Europa stimmten auch nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Arthur staunte immer wieder über die rot gefärbten Länder in Asien, Afrika, ja selbst in Nordamerika. Sie zeigten, wie gewaltig das britische Weltreich und wie klein das Mutterland war. Nebst den roten Kolonialgebieten des britischen Imperiums gab es in andern Farben die französischen, portugiesischen und damals auch noch deutschen Kolonien. Arthur hatte schon früher oft in dem Atlas geblättert, aber für die Schule brauchte er eben einen neueren Schulatlas, dazu für den Geschichtsunterricht auch noch einen historischen Atlas, der die Länder und Reiche zeigte, wie sie sich im Altertum und im Mittelalter entwickelt hatten. Das alles kostete viel Geld, auch der Zirkel und die Winkelmaße, die Maßstäbe, die Füllfeder und jeder Bleistift und Radiergummi.

      Nein, ein Studium würde er seinem Vater nie zumuten können. Nach vielen Überlegungen stand für ihn fest, dass er in die Handelsabteilung wechseln würde. Mit einem Abschluss würde er sofort einen Beruf ergreifen können und seinem Vater nicht länger auf der Tasche liegen. Alles, was die andern an humanistischer Bildung im Gymnasium lernten, außer Latein und Griechisch, wollte er sich selber anhand von Büchern, die er weiterhin aus der Schulbibliothek beziehen würde, aneignen.

      Nun war er auf einmal einer der Besten in der neuen Klasse der Handelsabteilung. Am meisten liebte er den Deutschunterricht. Hier wurde der „Egmont“ von Goethe gelesen, „Der Grüne Heinrich“ von Keller, Theaterstücke wurden einstudiert, Gedichte auswendig gelernt und aufgesagt. Manche Schüler hatten wenig Interesse an solchen Dingen. So war er auch jetzt fast der Einzige der Klasse, der die Schulbibliothek benutzte. Der eine oder andere Schüler holte sich wohl einmal einen Roman, vielleicht von Ernst Wiechert, der gerade en vogue war, doch Arthur stieg immer mit einen Arm voll Büchern von der Bibliothek, die unter dem Dach eingerichtet war, nach unten.

      Einmal hatte der Lehrer einen Schüler seinen Aufsatz vorlesen lassen. Der Lehrer bezeichnete ihn als das Musterbeispiel eines gut geschriebenen Aufsatzes. Das nächste Mal schrieb Arthur seinen Aufsatz in einem ähnlichen Stil. Doch der Schuss ging hinten hinaus.

      „Eigenmann“, sagte der Lehrer, als er Arthur sein Aufsatzheft zurückgab, „dieses Elaborat, das Sie geschrieben haben ist nichts anderes als ein Plagiat. Sie sollen nicht Ihren Mitschüler Niedermeyer imitieren, sondern Ihren eigenen Stil finden.“

      „Ja, so ist es“, denkt Arthur, „und schaut zu seinem Hügel hinauf. „Ich habe nie einen eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden. Ich habe mich mal von diesem, mal von jenem Autor beeinflussen lassen wollen, aber nicht einmal das habe ich geschafft. Geschichten und Romane sind immer ein „stilloses“ Erzählen geblieben.

      Als Arthur die Schule als zweitbester seiner Klasse abschloss, war sein größter Wunsch gewesen, in einem Verlag zu arbeiten. Doch das gelang ihm erst ein paar Jahre später.

      Fern auf dem Hügel sieht Arthur das junge Bäumchen, das ganz oben allein zwischen zwei Wäldchen in einer Mulde am Horizont steht. Von seinem Schreibtisch

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