Der Ruf des Kojoten. Regan Holdridge
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Читать онлайн книгу Der Ruf des Kojoten - Regan Holdridge страница 6
„Ich hole Onkel Jon!“
Mit einem Ruck warf er sich auf dem Absatz herum und verschwand zum Stalltor hinaus.
„Dieser Junge! Aus dem wird noch ein prächtiger Rancher!“ Harold McCullough lächelte zufrieden.
„Meinst du?“, erwiderte seine Frau und es klang beinahe sarkastisch. Ein wenig erstaunt hob er die Brauen, doch sie widmete sich bereits wieder der Wunde des Hengstes, um sie zu reinigen und zu desinfizieren.
Harold McCullough war ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit kastanienbraunem Haar und einem wettergegerbten Gesicht, wie es nur jemand besaß, der sein Leben lang draußen, in der freien Natur gearbeitet hatte. Den dichten Schnurrbart trug er meist zu lang, sodass dieser im Takt seiner Worte wippte, wenn er sprach. Harold wirkte auf seine Mitmenschen für gewöhnlich sehr selbstbewusst und unnachgiebig, beinahe hart und dieser äußere Eindruck täuschte nicht. Er gehörte zu den stolzen, schwer arbeitenden Ranchern, die in ihrer Jugend dem rauhen Klima von Wyoming getrotzt hatten. In Kalifornien erging es ihm heute wesentlich besser und es gab für ihn nichts Wichtigeres und Schöneres, als über Kälber, Pferde und die zu erwartenden Ernten bei einem guten Glas Whiskey zu philosophieren. Häufig geschah dies in Gesellschaft der Nachbarrancher oder im Rahmen von Versammlungen des Viehzüchterverbandes in Reno.
Der genaue Gegensatz zu ihm war seine Frau. Fey McCullough reichte ihrem Mann gerade bis zu den Achselhöhlen und besaß einen dünnen, beinahe mageren Körper. Ihr sanftes, hübsches Gesicht verbarg die Härte, die ihrem Charakter entsprach und der nur selten und in der Regel dann, wenn ihr etwas nicht recht war, aus ihr herausbrach. Dafür jedoch wurden diese Ausbrüche von all ihren Mitmenschen umso mehr gefürchtet.
Währenddessen stapfte Byron durch den hohen Schnee hinüber zum Bunkhouse. Seine Faust donnerte gegen die Eingangstür der Unterkunft. „Onkel Jon! Onkel Jon!“
Es vergingen einige Sekunden und allmählich merkte er, dass es doch sehr kalt geworden war über Nacht. Er bibberte, aber er hatte einen Auftrag von seiner Mutter erhalten und den würde er auch ausführen. Er klopfte noch einmal und endlich wurde die Türe von innen aufgezogen. Dahinter erschien ein schlanker, großer Mann mit graumelierten Haaren, das Hemd noch offen und mit schläfrigem Blick.
„Gott, Junge, was soll dieser Lärm schon in aller Herrgottsfrüh?!“ Der Vormann der Coyote Canyon Ranch kratzte sich den Dreitagebart.
„Du sollst sofort kommen! Black Pearl hat heute Nacht seinen Verschlag zusammengehauen und sich dabei verletzt!“
„Ah?“, war die einzige Antwort. Schließlich nickte der Mann und legte seine Hand auf den Kopf des Jungen. „Und du, geh wieder rein, bevor du dir eine Lungenentzündung holst! Ich bin schon auf dem Weg!“
Byron wandte sich dankbar um. Er war froh, wieder ins warme Haus zurückgehen zu können. Eigentlich war Jonathan Sanfors nicht sein Onkel, aber sie alle nannten ihn so. Er arbeitete bereits seit vielen Jahren für ihren Vater und sie wussten nicht, wie es ohne ihn auf der Ranch wäre. Schon von Beginn an hatten sie ihn als eine Art Onkel betrachtet, den es nicht gab in ihrem Leben. Fey besaß keine Geschwister mehr und die Brüder von Harold waren in alle Winde zerstreut. Byron konnte sich kaum an eine Begegnung mit einem von ihnen erinnern. Für ihn, wie für seine Geschwister, war Jon der Ersatz für Großvater, Onkel und all die anderen Verwandten, die sie nicht kannten.
Als Byron das Haus betrat, fand er im Wohnraum seine drei jüngeren Geschwister versammelt. Die vierjährigen Zwillinge weinten und schrien und Stacy tat sein Möglichstes, sie zu beruhigen.
„Na, endlich!“, fuhr er seinen älteren Bruder zornig an, als dieser wieder in der Tür erschien. „Ich dachte schon, ihr seid alle verschollen!“
Byrons Blick verfinsterte sich. „Du wirst es ja wohl noch hinbekommen, zwei kleine Mädchen zum Schweigen zu bringen!“
„Dann mach’ es doch selber!“, rief Stacy aufgebracht und sprang vom Sofa auf, wohin er seine beiden kleinen Schwestern gesetzt hatte. „Ich geh’ mir was anziehen!“
„Klar, hau’ ruhig ab und überlass’ mir mal wieder die ganze Arbeit!“
„Du bist doch eh der Klugscheißer in der Familie!“, schrie Stacy zurück und rannte die Treppe hinauf, so schnell er konnte. Manchmal, da konnte es Byron richtig fertigbringen, dass er ihn hasste.
Den Vormittag verbrachten die Kinder draußen, im Schnee und waren kaum dazu zu bewegen, wenigstens zum Mittagessen hereinzukommen. Wie jeden Tag brachte Fey auch zu Jon und den anderen beiden Männern, die für sie arbeiteten – Bruce und Craig – etwas davon hinüber zum Bunkhouse. Morgen würden die beiden für drei Monate fortgehen. Im Winter über brauchten sie keine zusätzlichen Arbeitskräfte und die Cowboys fuhren entweder nach Hause, um sich dort während dieser Zeit etwas Geld dazuzuverdienen oder sie gingen gleich irgendwo in die nahegelegenen Städte und suchten sich dort übergangsweise Arbeit. Nur Jon blieb. Er hatte keine Familie mehr irgendwo in diesem Land. Er war allein und seine einzige Familie, die er besaß, waren Harold und Fey und deren vier Kinder.
Fey wusste das und deshalb lud sie ihn seit vielen Jahren schon ein, das Weihnachtsfest mit ihnen zu verbringen, seit dem Tag, an dem Harold ihn aus der Stadt mitgebracht und ihn als ihren neuen Vormann vorgestellt hatte. Das war gleich nach dem völlig unerwarteten Unfalltod von Mike gewesen, der die Position vorher innegehabt hatte. Er war an einem sonnigen Frühjahrsmorgen hinausgeritten, um ein paar verschwundene Rinder zu suchen und nicht wiedergekommen. Irgendwann war Harold ihm gefolgt, weil er anfing, sich Sorgen zu machen. Er hatte ihn nur wenige Meilen von der Ranch entfernt gefunden – mit gebrochenem Genick. Sein Pferd stand ruhig, nur ein paar Meter daneben und graste. Mike war ein hervorragender Reiter gewesen und niemand konnte sich erklären, wie er so unglücklich hatte vom Pferd fallen können, dass er dabei genau auf dem umgestürzten Baumstamm gelandet war. Und so kam Jon zwei Wochen später auf die Ranch.
Nach dem Mittagessen stürmten die beiden Jungs wieder hinaus in den Schnee. Die Zwillinge ließ Fey lieber nicht mehr in die Nässe und Kälte. Sie waren mit ihren vier Jahren noch klein und zart und sie wollte nicht riskieren, dass sie sich erkälteten.
Am Nachmittag musste sie Byron und Stacy trennen, die sich in der Wolle hatten. Nun, das war nichts Neues, die beiden stritten sich wegen jeder Kleinigkeit. Eigentlich hatte Fey geglaubt, wenn zwei Brüder nur knapp elf Monate hintereinander geboren wurden, müssten sie glänzend miteinander auskommen. Das war jedoch im Bezug auf ihre Söhne so gar nicht der Fall. Die beiden gerieten aneinander, wann immer sie konnten. Manchmal glaubte Fey, es würde ihnen regelrecht Freude bereiten, auf dem jeweils anderen herumzuhacken und eine Auseinandersetzung zu provozieren. Auch im Pausenhof der Schule waren sie schon einmal so heftig miteinander in Streit geraten, dass es fast in einer Schlägerei geendet hätte und mehrere Lehrer sie trennen mussten.
Meistens vertrugen sich Byron und Stacy bald wieder, doch der Friede währte leider in der Regel nur kurz. Ab und an hegte Fey zwar den Verdacht, dass Byron nicht unbedingt das Unschuldslamm war, das er immer gerne vorgab zu sein. Doch bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, ihn dabei zu ertappen, dass er seinen jüngeren Bruder in irgendeiner Form herausforderte.
Die Tischlampe im großen Wohnraum brannte als einziges Licht. Der festlich geschmückte Weihnachtsbaum stand in der Ecke und verbreitete eine warme, gemütliche Atmosphäre. Feys Platz unter dem Fenster, in dem kleinen, gelben Sessel hatte einige Meter in Richtung der Türe zum Arbeitszimmer verschoben werden müssen, weil die Zweige der prächtigen Tanne zu weit in den Raum hineinragten. Obwohl es noch nicht spät am Abend war, konnte Fey sich nicht