Geschichten aus Movenna. Petra Hartmann
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Die Krone Eirikirs
Ardua hielt das Buch mit beiden Armen fest umklammert. Sein Atem ging stoßweise, als er durch die Nacht hastete, mehrfach war er gestrauchelt, war lang hingeschlagen auf das scharfkantige Geröll und hatte sich üble Schürfwunden an Armen und Beinen zugezogen. Aber das Buch ließ er nicht los, obwohl der dickleibige Kodex viel zu schwer war, um von einem untrainierten, schwächlichen Jungen über weite Strecken getragen zu werden. Keuchend stürzte er voran, blickte immer wieder hastig über die Schulter zurück, doch einen möglichen Verfolger hätte er selbst bei Tage in der unwegsamen Felslandschaft nur schwer ausmachen können, um wie viel weniger in dieser mondlosen Nacht und mit flüchtigen, gehetzten Schulterblicken.
„Verwünschte Hexe!“, stieß er keuchend hervor und dachte neiderfüllt an seine Altersgenossen daheim in Mogàl, die bei ihren kriegerischen Übungen auch auf derartige nächtliche Fluchten in wüsten Felsgegenden vorbereitet worden waren. Hier in Movenna dagegen, so hatte man es seinem Vater einzureden gewusst, sei es Tradition, dass der zukünftige König zu einem der alten Kräuterweiber in die Lehre gegeben wurde. Wie hatte er nur darauf eingehen können. Ardua stolperte schwer atmend vorwärts. „Verwünschte Hexe!,“ keuchte er wieder und schaute sich im Laufen um, übersah dabei einen fast kniehohen Steinblock, stürzte und rutschte meterweit über feinkörnigen Schotter, bis er gegen eine Felswand prallte. Benommen blieb er liegen.
Das Buch hielt er noch immer umklammert, fest hatte er den in uraltes, brüchiges Leder eingebundenen Wälzer an sich gepresst, und obwohl er nun wirklich kaum noch Luft bekam, spielte ein triumphierendes Lächeln um seine Lippen. „Das hättest du nicht gedacht, Lournu, du alte Wetterhexe“, röchelte er, „dass dein kleiner Kräutersammler aus Mogàl dir deine Sprüche stiehlt.“
Langsam, sehr langsam beruhigte sich sein Atem wieder, es wurde still um ihn, nicht einmal Schotter rutschte noch nach. Offenbar hatte er seine Verfolger, wenn es solche gegeben haben sollte, tatsächlich abgeschüttelt. Er war allein. Zufrieden ließ er seine Finger über den Einband des Buches gleiten, ertastete Lederwülste, metallene Beschläge und die feingeschliffenen grünen Katzensteine aus dem nördlichen Gebirge, wo die Hexen, wie man in Mogàl erzählte, seinen Großvater getötet hatten. Das Leder war etwas abgeschabt von Arduas Sturz, doch hatten auch andere Unfälle im Laufe der Jahrhunderte an dem Buch ihre Spuren hinterlassen. Bei Tageslicht hatte er Brandlöcher im Einband sehen können, einige Seiten waren durch Bücherwürmer verstümmelt worden, und den allerletzten Zauberspruch hatte ein dunkler Blutfleck fast vollkommen unlesbar gemacht. Aber es roch gut, das Buch, es roch nach Pferden, nach Vanille, nach der uralten Magie des Landes Movenna. Warm und freundlich lag es in den Händen des jungen Prinzen, und ein bläuliches Glimmen schien von den Pergamentseiten auszugehen.
Entschlossen stand Ardua auf. Sein Atem hatte sich inzwischen fast vollkommen beruhigt, und auch der Puls schlug langsam und regelmäßig, wie ein Puls schlagen muss, wenn man sich mit magischen Dingen beschäftigen möchte. „Also, Schluss mit dem Blümchenpflücken“, murmelte er. „Jetzt wird es sich ja zeigen, ob man aus diesen Hexen nicht etwas mehr herausholen kann als Pfefferkuchenrezepte und Kräutertees.“
Als der Junge sich in Positur stellte und das uralte Buch aufschlug, zitterten seine Arme unter dem Gewicht des schweren Bandes, denn der voluminöse Wälzer war nicht für die Hände jugendlicher Hexenlehrlinge geschrieben worden, und erst recht nicht für fremde Eroberer aus den Steppen von Mogàl. Doch Ardua stemmte beide Beine fest und entschlossen in den Schotterboden und hielt den alten Kodex mit aller Kraft fast waagerecht vor sich. Nun sollte es sich erweisen, ob er nicht erfolgreicher war als sein Vater und sein Großvater, die das Land erobert und dennoch kein Glück gehabt hatten mit ihrer Herrschaft über Movenna.
Ardua schlug das Buch auf, und das bläuliche Leuchten, das von den Seiten ausging, verstärkte sich. Im Licht des Buches konnte man erkennen, wie sehr seine Arme zerschunden waren von den nächtlichen Stürzen, und die zerrissene Hose gab den Blick auf Knie und Oberschenkel frei, in deren Fleisch der feine rote Steinstaub sich tief hineingefressen hatte. Doch Ardua fühlte keinen Schmerz in diesem Augenblick.
Mit den Fingerspitzen wandte er die rauen, steifen Pergamentblätter um, eines nach dem anderen. Er blätterte langsam, ohne Hast, aber für die kunstvollen Illustrationen oder die geheimnisvoll verschlungenen Initialen, die von Hexen zahlloser Generationen geschaffen worden waren, hatte er keinen Blick übrig. Er wusste genau, was er suchte. Endlich hatte er den Zauberspruch gefunden. Er las ihn durch, zweimal, dreimal und zur Sicherheit auch noch ein viertes Mal. Dann schlug er das Buch zu und sprach ihn aus:
„In den Bergen von Movenna wohnt der alte Riese Orkon,
Hüter roter Schotterhalden,
Wächter gelber Goldesadern,
Hort der Krone Eirikirs.
Wem Movenna ist zu eigen, dem gehören auch die Berge.
Wem die Berge sind zu eigen, dem gehorcht der Riese Orkon.
Wem der Riese ist zu eigen, der erlangt des Reiches Krone
von dem alten Riesen Orkon aus den Bergen von Movenna.“
Ein Blitz jagte durch die Nacht. Genau vor seinen Füßen schlug er in den Boden, und Ardua sprang erschrocken zurück, als er in dem plötzlichen Lichtstrahl erkannte, dass die Felswand, vor der er gelegen hatte, gar keine Felswand war. Entsetzt starrte er nach oben, erblickte steinerne Knie und den unbewegten steinernen Oberkörper, breite steinerne Arme waren vor der gewaltigen steinernen Brust verschränkt, und obwohl der Felsenkoloss saß, konnte Ardua den Kopf bereits nicht mehr erkennen.
„Ho ho“, lachte eine grollende Donnerstimme auf ihn herab, dass das Echo noch minutenlang die Berggipfel erzittern ließ. „Wer ruft nach Orkon?“
„Ich bin es“, rief Ardua fest und laut zu ihm hinauf und hoffte, der Riese werde das Zittern seiner Stimme überhören. „Ardua, Sohn des Königs Jurtak und Kronprinz von Movenna. Als dein Herr und Meister gebiete ich dir, Orkon: Bring mir die Königskrone Eirikirs, die in allen Stämmen Movennas geehrt und geachtet ist. So lautet mein Befehl.“
Irgendetwas war falsch, entsetzlich falsch, etwas stimmte nicht, schoss es Ardua durch den Kopf. Klein und demütig hätte der Riese vor dem Meister des Zauberspruchs erscheinen müssen und auf seinen Befehl hin die strahlende Krone des Eirikir herbeibringen sollen. Aber von einem solchen Gelächter, wie es nun ertönte, hatte in Lournus Buch nichts gestanden. Mit fliegenden Fingern begann er erneut zu blättern, zerriss beinahe in seiner Hast eine der Seiten, endlich fand er das Blatt mit der Zauberformel, deren Buchstaben wirr vor seinen Augen zu tanzen begannen. Ardua stöhnte auf, als er den Butterfleck und einige verschmierte, kaum noch sichtbare Zeichenreste am Ende des Spruches bemerkte. Zwei Verse, mindestens zwei, waren hier verlorengegangen, verschwunden unter dem Geruch von ranziger Butter und frischem Pfefferkuchen, und nur noch Lournu selbst mochte wissen, wie man die Beschwörung Orkons korrekt zu Ende brachte. „Verwünschte Hexe!“, stieß Ardua ein drittes Mal hervor und taumelte rückwärts.
Der Steinblock hatte sich noch immer nicht bewegt, nur das Lachen beruhigte sich langsam. „Ho ho“, lachte Orkon ein letztes Mal, „ein fluchender kleiner Moglàt mit ’nem Buch. Und Eirikirs Krone will er haben. Sowas Komisches ist mir ja noch nie in den Weg gekommen.“
„Ich ...“ stammelte Ardua und wich weiter zurück, „ich – meine Mutter war eine Moven’Am.