Ausm leben mittenmang. Beate Morgenstern
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Inga eine der Ersten, die die Treppe herunterkamen. Sie trug eine sehr dunkle Brille. Erst ihr Lächeln machte Annette ganz sicher, die Cousine war es. Ihr strenges, figurbetontes Kleid ging bis eine Handbreit über die Knie, sodass man auf Ingas Beine schauen musste, das einzige, was sie trotz ihrer strengen, stets engen klassischen Röcke, Kleider - von Designern entworfen - von sich preisgab. Die Beine ohne Fehl und Tadel wie die Figur, es war fast zu selbst-verständlich. Fleischfarben glänzend die Strümpfe. Ich werde mir auch solche Strümpfe kaufen, dachte Annette. Je länger die Cousine lächelte, umso weniger fiel die Brille ins Gewicht. Jünger als im Oktober vergangenen Jahres sah die Cousine aus, frischer. Damals hatte Inga sie ein wenig müde, fast unwillig angeschaut, als Annette sie am Abgang des Bahnsteigs erwartete. Annette hatte damals die Cousine mit ihrem früheren Auftauchen im Bahnhof überraschen wollen, es der Cousine aber nicht übel genommen, dass sie sich kein Lächeln abzwingen konnte. Sie hatte an ihre Schwester gedacht, die wegen ihrer spröden Art oft mit Inga verglichen wurde. Auch Annettes Schwester konnte sich nur langsam auf Besuche einstellen. Zudem war Annette die Fahrt damals bezahlt worden, da sie eine Tagung in der Nähe hatte, sodass es ihr nicht so viel ausgemacht hätte, falls sie Inga doch nicht willkommen gewesen wäre.
Hallo! sagte Inga, reichte Annette die Hand.
Hast du mich gleich gesehen?, fragte Annette.
Ich wusste, dass du hier wartest, sagte Inga gleichmütig. Du kanntest dich ja vom letzten Mal aus. Wir gehen in die Stadt! Sie schaute auf Annettes Tasche, entschied, dass sie die zunächst zum Auto auf dem Parkplatz bringen würden. Sie gingen den langen Tunnel bis zu Ende. Inga lief schnell. Man hörte das Hallen ihrer Absatzschuhe. Annette lief schnell, wenn auch lautlos, da sie Sandalen trug. Fühlte sie sich gut, musste sie schnell laufen, dieselben harten, schnellen Schritte wie Inga. Auch sonst gab es einige Ähnlichkeit. Beide blond. Inga trug halblanges, ein wenig gewelltes Haar, hatte helle Strähnen zwischen dunkleren. Annettes Haare lockten sich von selbst etwas. Sie war um weniges kleiner als die Cousine, nicht so drahtig. Beide helle Augen, die von Inga gingen vom Grün ins Gelb. Ingas Vater und Annettes Mutter Bruder und Schwester. Die beiden Geschwister waren von lächerlicher Ähnlichkeit. Ein Weniges an äußeren Besonderheiten war noch in der nächsten Generation zu erkennen.
Inga schloss den Kofferraum ihres blauschwarzen Mercedes auf, die Farbe ihres Wagens fast identisch mit der ihres Kleides. Annette legte ihre Tasche ab und ihre Jacke. In Berlin war es kühl gewesen, fast schon kalt, und es hatte geregnet. Nach der Wettervorhersage gab es eine Trennung zwischen dem Nordosten und dem übrigen Teil des Landes. An den Anblick der vergrößerten Landkarte hatte sich Annette mittlerweile gewöhnt. Die Voraussage schien zu stimmen. Während der Fahrt hatte sich der Himmel immer mehr aufgehellt. Als sie jetzt aus dem Bahnhofsgebäude traten, schien die Sonne.
Wir kaufen ein, sagte Inga, und dann gehen wir zum Drostenhof und trinken einen Eiskaffee. Kennst du den Drostenhof?
Bei ihrem ersten Besuch, es war vielleicht ein reichliches Jahr nach dem Fall der Mauer gewesen, hatten Inga und ihr Mann Annette die Umgebung gezeigt, hatten mehrere Wasserschlösser gesehen, von denen es unzählige geben sollte in diesem fruchtbaren, flachen Land. Vielleicht hatte Annette bei einer Fahrt in die Stadt auch den Drostenhof gesehen.
Ein Schlaun-Bau, sagte Inga. Das heißt, ich bin mir nicht sicher. Ist für Schlaun vielleicht zu verspielt. Sie erklärte, dass der Architekt Schlaun alle Barock-Bauten in Münster errichtet hätte. Er ist für Münster der Architekt wie für euch Schinkel, sagte sie. Aber der war wohl dann später.
Ja, sagte Annette.
Klassizismus?
Ja. Annette fielen verschiedenartige Bauten ein. Historismus wohl auch.
Inga kaufte in einem Geschäft Laugenbrötchen.
Brot!, erinnerte Annette, da Inga vorher davon gesprochen hatte.
Ja richtig, sagte Inga, wollte ein bestimmtes unter den über Dutzend Brotsorten, das es nicht gab, nahm ein helleres. Der Preis für das halbe Brot und die Brötchen hoch. Wieder einmal erschrak Annette, obwohl sie ja inzwischen wusste, dass man in Münster - und in diesen Läden besonders - solche Preise nahm. Auf der anderen Seite des Geschäfts Wurstwaren. Du kannst auswählen!, sagte Inga.
Annette aß kaum noch Wurst, seitdem sie die ersten Westprodukte, in Folie eingeschweißt, nach der Wende in Kaufhallen angeboten wurden, hauchdünn geschnitten, salzig, geschmacklos, gegessen hatte. Sie sagte immer noch Kaufhalle. Überlegte, wie man jetzt dazu sagte. Supermarkt, fiel ihr schließlich ein. Sülze schien ihr ein Ausweg. Dann sah sie eine französische Pastete. Eine paté also!, sagte Inga, der eine Lamm-Salami ins Auge stach. Annette stimmte zu, fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, als sie noch die Cousine aus dem Osten war. Aus Ostberlin. Jetzt wurde Berlin schon mehr als eine Stadt gesehen. Da hatte sie bei Einkäufen auch staunend und ängstlich über Angebot und Preise neben Inga gestanden. Annette kam wohl mit ihrem Geld aus. Aber nur deshalb, weil sie in den Supermarkt ging. Alles andere schien ihr in ihrer Lage nicht recht. Lieber kaufte sie sich Kleidung mittlerer Preislage. Neben Inga allerdings fand sie sich ungeschickt angezogen.
Nicht sehr weit, und sie waren am Drostenhof. Annette konnte nun mit Bestimmtheit sagen, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie suchten nach erklärenden Tafeln und fanden dann auch eine. Von Schlaun! Ich hatte recht!, sagte Inga befriedigt, die die Leidenschaft ihres Vaters für Architektur übernommen hatte. Der Vater allerdings war der Architektur wahrscheinlich mehr aus Anhänglichkeit an seinen zehn Jahre älteren im Krieg gefallenen Bruder zugetan. Der Bruder hatte dem Kleinen erklärt, und der Kleine hatte es als Gunst und Liebesbeweis genommen. Ingas Vater war so einer, sehr treu, sehr anhänglich. Der Drostenhof ein Barockbau, gemäßigt in der Ausführung mit einem großen Innenhof. Eine Mauer grenzte ihn von der Gasse ab. Auf der Gasse ein Café. Sie wählten sich Plätze an der Mauer. Sie hatten die stechende Sonne in ihrem Rücken, sahen auf das die Gasse auf und ab flanierende Volk. Ein Eiskaffee, sagte Inga zur Bedienung.
Ein Eiskaffee, sage Annette nach einigem Zögern, hätte lieber ein Eis gegessen.
Inga knickte den Halm an vorgesehener Stelle, schlürfte ein wenig vom Kaffee. Übrigens, Wolle und ich haben uns getrennt, sagte sie übergangslos.
Jetzt also doch!, dachte Annette. Sie hatten nie über Ingas Ehe gesprochen. Durch deren Vater wusste sie von Problemen. Wenn wir nach Hause kommen, wird Wolle nicht da sein, fiel ihr als nächstes ein. Sie war noch nie mit Inga allein gewesen. Annette erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam. Sie musste die Nachricht erst verarbeiten. Auch war es Inga wohl lieber, wenn sie sich nicht äußerte. Annette berichtete davon, dass sich die Beziehung zu einer Freundin gehalten habe, obwohl die der Arbeit wegen nach Westdeutschland gezogen sei. Darüber bin ich so froh, sagte sie. Es braucht Jahre, ehe ich zu einer Frau Zutrauen fasse.
Ich kann gerade mit Frauen!, sagte Inga. Ich habe eher Schwierigkeiten mit Männern. Warum kannst du mit Frauen nicht.
Annette sprach von ihrer Mutter, der Schwester von Ingas Vater und bald davon, wie sie im Vorschulalter in ein Kinderheim gegeben worden sei, das von einer gemeinsamen Tante geführt worden war.
Komisch. Wir haben uns bei Tante Ines zu den Ferien immer sehr wohl gefühlt!, sagte Inga mit ihrer hellen, festlichen Stimme, in der ein klein wenig Schwäbisch mitklang.
Ja,