Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether
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Das wäre auch in seinem Heimatdorf nicht anders gewesen. Doch dort hätte er Liebe erfahren, die er im neuen Zuhause schmerzlich vermisste. Ging er Kaya deswegen ins Netz? Hatte sie deswegen leichtes Spiel mit ihren Verführungskünsten, weil er in ihr den Ersatz der Mutter sah? Kaya besaß magische Kräfte. Sie konnte ihn verzaubern. Er musste Altje dankbar sein, dass sie ihn aus dieser Abhängigkeit befreite. Gis war Altje dankbar, schuftete bis zur Erschöpfung, ersetzte Frysunth, der sich seit Tagen mit anderen Kriegern traf, dem eigenen Hof fern blieb, als Arbeitskraft ausfiel. Altje bemerkte seinen Eifer, selbst wenn ihre drei anderen Ziehsöhne nichts unversucht ließen, den ungeliebten Bruder in Misskredit zu bringen. Sie bemerkte auch, wie sich der Junge kaum mehr für Kaya interessierte.
"Arbeit ist die beste Medizin, heilt sogar verfehlte Liebe", sagte sie zu sich selbst und beschloss, dem Knaben eine Freude zu machen, ihm die Teilnahme am großen Erntedankfest zu erlauben. Als Frysunth endlich heimkehrte, unterbreitete sie den Vorschlag und fand des Gatten ungeteilten Zuspruch.
"Er arbeitet so hart, wird bestimmt einmal ein guter Bauer, ein guter Hoferbe", freute sich Frysunth, seinen lange gehegten Wunsch offen aussprechen zu können. Und Altje widersprach nicht mehr. Auch sie war von Gis Qualitäten zunehmend überzeugt, mochte vor allem nicht mehr den Hof an Odas Söhne vererben, die sich mehr durch Zänkigkeit denn durch Arbeitseifer, eher durch überhebliches Gehabe denn durch Demut auszeichneten. Sollten sie sich Odas Hof teilen. Der von Frysunth zu vererbende Besitz hatte einen würdigeren Eigentümer verdient.
Der Mond war gut am Zunehmen, würde bald seine größte Fülle erreichen. Erntedank stand unmittelbar bevor. Und wie jeden Tag stand Gis noch in der Dunkelheit auf, um mit dem ersten Tageslicht die letzten Feldfrüchte einzubringen. Wie jeden Tag nahm er sein Nahrungsbündel auf die nackte Schulter, ertasteten seine nackten Füße den Weg zum Ausgang. Leise öffnete er die hölzerne Tür. Er wollte sich das Geschimpfe der Brüder nicht anhören, die ihn einen Verräter, einen Streber nannten.
"Bleib noch. Du hast nicht mehr so viel zu tun, als dass du schon jetzt aufbrechen müsstest."
Gis erschrak. Es fiel ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht auf, dass Altje bereits ihr Lager verlassen, vor dem Haus bereits auf ihn gewartet hatte.
"Komm mit mir zu Tahnker. Dein Vater und er schlossen einen Handel. Du wirst dich freuen."
Altjes Worte machten Gis neugierig. Er hatte Tahnker lang nicht mehr gesehen, schon fast vergessen, dass er ihm einst den Rehbock schenkte und ein Paar Schuhe als Gegenleistung erbat. Er hatte auch Tahnkers Belehrung fast vergessen, die ihm auftrug, Kaya wie einen Schatz zu hüten. Hoffentlich fragt er nicht nach ihr, dachte Gis noch, als sie bereits vor der kleinen Hütte des Freigeists standen, dem die Frau bei der Geburt des ersten Kindes und das Kind wenig später gestorben, seither das Glück einer Familie versagt geblieben waren.
Tahnker stand bereits vor seiner Hütte, hielt ein Bündel in den Armen, welches im ersten Morgengrauen gut erkennbar war und Gis Blicke magisch anzog. Es ist bestimmt für mich, dachte er. Seit er fast alles verlor, nur die nackte Haut retten konnte, musste er sich jeden kleinen Besitz hart erarbeiten, reichte es gerade für ein Hemd und zwei Hosen. Jetzt streckte ihm Tahnker so ein großes Paket entgegen.
"Es ist für dich", sagte der bereits ergrauende, von Gestalt jedoch noch immer kräftige Mann. "Möge es dir Glück bringen, so wie mir großes Glück zu Teil, mir ein besonderer Schatz geschenkt wird."
"Nimm es ruhig", forderte Altje den zögernden, Tahnkers Worte nicht recht begreifenden Jungen auf. Es gehört dir. Von der Ziehmutter solcherart angestachelt, gab Gis seiner Neugierde nach und förderte ein fein gearbeitetes, mit Fell verziertes Hemd, eine feste lederne Hose und ein Paar Stiefel zu Tage. Was für ein Schatz, dachte er und jubelte innerlich. Äußerlich blieb er ruhig, sagte artig danke und sah erstaunt einen leichten Anflug von Trauer in Tahnkers Augen. Ärgerte sich dieser über Gis Beherrschung? War es nicht der Wunsch aller Erwachsenen, dass Kinder ihre spontanen Regungen kontrollierten?
"Es freut mich, wenn es dir gefällt. Doch eines gebe ich dir noch mit auf den Weg. Es gibt Werte im Leben, die erkennt man erst, wenn man sie verliert."
Gis runzelte die Stirn. Er verstand nicht den Sinn in Tahnkers Rede. Altje hingegen verstand ihn wohl, dankte nur kurz und drängte zum raschen Aufbruch. Keinesfalls sollte der alte Eigenbrötler ihren Sohn, wie sie Gis seit der Übereinkunft mit Frysunth in ihrer Seele nannte, mit romantischen Ideen von dem vorgezeichneten Weg zum Besitzenden, zum bedeutenden Mitglied der Dorfgemeinschaft abbringen.
Es sollte noch Stunden dauern, bis die brütende Sonne, die am Tage vor Erntedank noch einmal ihre Kraft zeigen, sich noch lang nicht dem aus weiter Ferne heranziehenden Winter beugen wollte, hinter den Bäumen verschwinden, die unerträgliche Hitze mit sich nehmen würde. Wie so oft trug Gis nichts mehr