Taubenjahre. Franziska C. Dahmen

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Taubenjahre - Franziska C. Dahmen

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wurde er wieder ernst. Aber die da vor ihm, dieses nach frisch geschnittenem Heu duftende Mädchen mit Augen, die an einen sprudelnden Bergquell erinnerten, war anders; vollkommen anders!

      Von Anfang an hatte sie ihn fasziniert: Schon als sie die Treppe herabgetänzelt war, hatte sein Herz einen wahren Trommelwirbel veranstaltet. Und dann diese Augen, dieser Mund, der ihn förmlich dazu aufforderte, ihn zu küssen! Gut und schön, ihr Bruder war mit Sicherheit ein notorischer Säufer und Schläger, dem man besser aus dem Weg ging. So einer verhieß in der Regel nichts Gutes. Und die Mutter? Die hatte eher Borsten denn Haare auf den Zähnen. Selbst mit einer Drahtbürste würde man nicht dagegen ankommen. Aber dieses Mädchen … – Rafael stöhnte innerlich auf. Statt sich aus dem Staub zu machen, stand er jetzt wie ein Trottel neben ihr und unterhielt sich mit ihr. Und das Schönste an der ganzen Angelegenheit war, dass niemand anderes als dieser Polizist dafür verantwortlich war; da sollte mal einer sagen, dass die Polizei nicht auch für einen Rom ein Freund und Helfer sein konnte. – Andererseits: Das Ganze war Wahnsinn! Vollkommener Wahnsinn! Wie überhaupt alles, was dieses Mädchen betraf, Wahnsinn war! Angefangen von ihrem Äußeren, bis hin zu ihrer Stimme. Aus der Ferne hatte sie hell und klar geklungen, dabei besaß sie einen dunklen, rauchigen Unterton, der so gar nicht zu ihr passen wollte. Und doch … Es lag ein unwiderstehlicher Reiz in diesem Widerspruch, der ihn nicht einfach nur anzog, sondern ihn geradezu dazu aufforderte, sich wie die Motte am Licht an ihr zu verbrennen. Hinzu kam, dass sie sich wirklich für ihn zu interessieren schien. Sie stellte Fragen. Nicht kichernd und verschämt, wie die andern Gadje, die im Grunde gar keine Antwort auf ihre Fragen erhalten wollten, sondern ernst und aufrichtig.

      Zuerst hatte Hanna sich für das Verhalten ihres Bruders und ihrer Mutter entschuldigt, nur um ungekünstelt und direkt ihre erste Frage hinterherzuschicken: »Sie sind wirklich ein echter Zigeuner?«

      Rafael lachte. »Ja.«

      »Hm … Das ist doch keine Beleidigung für sie, wenn ich sie so nenne …? Hoffe ich …? Ich meine, ich weiß nicht … Tut mir Leid!«

      »Es braucht ihnen nicht Leid zu tun. Es ist schon in Ordnung, wenn sie mich so nennen. Obwohl ich mich selber als Rom bezeichne, aber sie können mich auch einfach Rafael nennen.« – Was rede ich da für einen Quatsch!, hatte er im gleichen Moment gedacht, als ob das irgendjemanden interessieren würde.

      »Rom? – Ja, kommen sie denn aus Rom, sind sie Italiener?«

      Wieder musste er lachen. »Nein! Rom, mit einem kurz und nicht mit einem lang gesprochenem o. Und nein, wir kommen nicht aus Italien, obwohl es da sehr schön ist.«

      »Sie waren schon einmal in Italien?« Sehnsüchtig schaute sie ihn dabei an.

      Er nickte.

      »Und woher kommt dieses … Rom?« Sie sprach es kurz und hart aus.

      »Das ist der Name unseres Stamms – eigentlich Roma; dass heißt, wir sind Roma. Unsere Sprache ist das Romani.«

      »Ah, wie die romanischen Sprachen: französisch, italienisch, …«

      Rafael zuckte mit den Schultern. »Tut mir Leid, das kann ich ihnen nicht sagen. Unsere Sippe kommt ursprünglich aus der Walachei. Zumindest meine Familie, ehe wir über Ungarn nach Österreich und von da aus dann nach Deutschland gekommen sind. Aber das ist schon lange her.«

      »Oh, dann sind sie ja richtig weit gereist …«

      Rafael lachte wieder. Gerade als er ihr erzählen wollte, dass er zwar schon weit gereist, aber niemals in seinem Leben in der Walachei gewesen sei, wurde er von der sich verengt habenden Breitbeinigkeit des öffentlichen Rechts unterbrochen: »Sie kommen mit aufs Revier. Ich möchte mir ihre Papiere anschauen.«

      »Aber der Herr Rom hat doch nichts getan!«, mischte sich Hanna empört ein. »Mein Bruder hat ihn angegriffen …«

      »Miese Schlampe!«, schnaubte ihr Bruder ihr entgegen, woraufhin Rafael unwillkürlich seine Hände zu Fäusten ballte.

      »Da, sehen sie nur!«, schrie Hannas wieder zum Leben erwachte Mutter aufgebracht. »Er bedroht meinen Sohn! Ganz eindeutig!« Triumphierend wies sie mit ihrem Zeigefinger auf Rafaels Fäuste. »Sehen sie nur Herr Wachtmeister, wie er die Fäuste ballt … Der ist gemeingefährlich!«

      Fast in Zeitlupe konnte Rafael verfolgen, wie sich alle Blicke auf seine Fäuste richteten und sich regelrecht in sie verhakten. Schon meinte er ihr bleiernes Gewicht zu fühlen: Den zufriedenen der Matrone, den hämisch grinsenden Karls, den irritierten Hannas sowie den finsteren des Wachtmeisters. Doch es sollte niemand anderes als Hanna sein, die ihn im nächsten Augenblick von sämtlicher Last befreite.

      »Wenigstens wollte der Herr Rom mir helfen. Etwas, das du nie tust – Mutter!«, stellte Hanna trocken fest und löste damit einen erneuten Blick- und Empfindungsreigen aus, der von mütterlicher Empörung über mühsam in Schach gehaltener Bruderwut bis hin zu fraglosem Erstaunen auf Seiten Rafaels reichte.

      »Mhm, Fräulein Schubek …«, räusperte sich der Polizist und versuchte wieder seine kurzfristig verlorengegangene Breitbeinigkeit zurückzuerlangen. »Dass Beste ist, sie begleiten ihre Frau Mutter erst einmal nach Hause. Der Herr Rom und ihr Bruder kommen mit mir aufs Revier.«

      Mit: »Ich lasse meinen Sohn nicht mit dem da alleine!«, brach sich der einseitig gepolte mütterliche Schutzinstinkt kurz Bahn, ehe er jählings durch die wiedergefundene personifizierte Breitbeinigkeit gestoppt wurde. »Gnädige Frau, ich möchte sie BITTEN, sich mit ihrem Fräulein Tochter zu entfernen. Und sie drei«, ein Rafael, Karl und den Imker umfassender Wink, »begleiten mich auf’s Revier. Guten Tag, die Damen!«

      Auf dem Revier

      Wie stets wurde Rafael auch auf diesem Revier zunächst auf die Eckdaten seines statistischen Daseins reduziert.

      »Name?«

      »Zlobek.«

      »Vorname?«

      »Rafael.«

      »Zigeunername?«

      »Rafael Zlobek«

      »Geburtstag?«

      »18.3.1907«

      »Geburtsort?«

      »Frankfurt am Main.«

      »Staatsangehörigkeit?«

      »Deutsches Reich.«

      »Beruf?«

      »Pferdehändler und Musikant.«

      »Personenstand?«

      »Verwitwet.«

      »Zeit und Ort der Eheschließung?«

      »16.5.1925, Friedrichshafen.«

      »Name der Ehefrau?«

      »Margita Tylo.«

      »Sterbedatum und – ort?«

      »18.2.1927, Graz, Österreich.«

      »Kinder?«

      »Nein.«

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