Schlussakt. Joana Goede
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Kinobesuch
Die Aufregung hatte sich bald gelegt. Nach den Feiertagen war ein Arzt gekommen und hatte mich von oben bis unten genau untersucht, allerdings nichts Ungewöhnliches festgestellt, außer, dass der junge Patient unter Stress litt. Das könne durch alles Mögliche verursacht worden sein, sagte er, doch wie das gerade in der Mitte der Ferien passieren konnte, war ihm schleierhaft. Zwar äußerte ich mich nicht dazu, ich war sowieso sehr viel ruhiger geworden, als vorher, aber im Stillen fragte ich mich das auch. Mein Geheimnis hatte ich mit niemandem geteilt und aus Angst, mich irgendwie zu verraten, zog ich es vor zu schweigen. Musste schließlich niemand wissen, dass ich im Stillen eine Flucht plante. Wäre dieser Fluchtplan nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt und mit zahlreichen Hindernissen gespickt gewesen, hätte ich mich mit Sicherheit wohler gefühlt.
Der Arzt vermutete, dass es sich um einen starken Migräne-Anfall handelte, der mir so zugesetzt hatte und er schrieb mir Tabletten auf, die ich beim nächsten Mal nehmen sollte. Das warf allerdings die Frage auf, wie ich in diesem Zustand der geistigen Umnachtung, in den mich die Migräne versetzt hatte, in der Lage sein sollte zu denken und das Gedachte in die Tat umzusetzen. Ich bezweifelte meine Kompetenzen, in genau diesem Moment eigenständig zu den Tabletten zu greifen und sie zu schlucken. Diese Zweifel behielt ich allerdings für mich, aber ich dachte mir meinen Teil. Dass das eine harmlose Migräne gewesen war, begleitet von starken Kreislaufproblemen und an sich nichts gefährliches, war mir klar, doch ich grübelte Tagelang vor mich hin, was sie denn verursacht haben könnte. Das war die Preisfrage. Leider verhielt es sich mit dieser Frage so ähnlich, wie mit dem seltsamen Traum in der Silvester-Nacht, denn ich konnte mich bald an nichts mehr erinnern, bis auf ein schreckliches Gefühl und die Angst. Die Angst vergaß ich nicht. Alles andere flutschte mir durch die Finger wie ein glitschiger Fisch, ungreifbar für mich. Da ich keine sehr durchsetzungsfreudige und selbstüberzeugte Natur war, gab ich schließlich auf und fügte mich meinem Schicksal, zurzeit mein größter Feind.
Das neue Jahr tat ein paar Sprünge nach vorne und Constanze behandelte mich in seinen ersten Tagen ganz besonders zuvorkommend, wohl aus Angst, sie habe etwas mit meinem merkwürdigen Verhalten zu tun, doch ich wusste, dass wenn sie etwas damit zu tun haben sollte, sie höchstens eine untergeordnete Rolle dabei spielte. Aber ich genoss es, dass sie mich zum ersten Mal so behandelte, wie es sich für eine besorgte Schwester gehörte.
Der Schnee draußen war geschmolzen und nur der graue, scheußliche Matsch am Straßenrand erinnerte noch an die Winterliche Pracht vergangener Tage. Ich verließ das Haus nicht, kein einziges Mal. Ich las auch nicht, oder spielte Gitarre, denn ich hatte alles Produktive und Kreative aufgebenden. Meistens saß ich einfach nur da und starrte vor mich hin, Gedanken nachhängend, die ich niemandem mitteilen wollte. Das schwarze Loch der Motivationslosigkeit hatte mich eingesogen und verschluckt. Jetzt war es mein Problem, es wieder zu verlassen. Doch im Augenblick fühlte ich mich dort eigentlich ganz wohl.
Madeleine schien das zu beunruhigen. Ständig brachte sie mir Erkältungstee und machte viele verschiedene Nudelgerichte, die ich sonst sicherlich sehr gern gemocht hätte, doch in diesen Tagen fehlte es mir an Appetit, so wie an allem anderen auch. Ich stocherte nur in meinem Essen herum, und den Erkältungstee würgte ich nur herunter, um meine Pflegemutter zu beruhigen. Natürlich war ich nicht erkältet und schon gar nicht krank. Bis auf die Schwäche und die Müdigkeit, die mich nicht loslassen wollte, fühlte ich mich gesund und schrieb meine Appetitlosigkeit meiner Verwirrtheit zu. Typisch menschlich, die eigene Schuld immer auf andere zu schieben. Ich hätte lieber einmal mich selbst nach der Ursache durchforsten sollen.
Am dritten Tage meiner Lethargie wurde ich gestört. Das kam mir sehr ungelegen, schließlich hatte ich mich so erfolgreich in meinen Panzer zurückgezogen, dass ich alles um mich herum einfach abgeschaltet und vergessen hatte. Madeleine trug Constanze auf, mit mir ins Kino zu gehen, um mich abzulenken. Danach, sagte sie, könnten wir machen, was wir wollten. Sie gab Constanze genug Geld, um zwei jungen Leuten damit einen angenehmen Abend zu bescheren. Aber ich hatte selbstverständlich keine Lust. Ich fühlte mich nicht danach, das Haus zu verlassen. Constanze sagte, ich sähe bleich und krank aus. Da widersprach ich ihr nicht, denn ich wusste, dass ich aussah, wie eine lebendige Leiche, und dazu kam noch, dass ich schon vier Tage dieselbe Kleidung trug. Das hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht im Mindesten gestört. Und jetzt zwang man mich auch noch dazu, meine ganze Gemütlichkeit abzulegen und mein geliebtes Loch zu verlassen. Eine Zumutung sondergleichen! Meine Privatsphäre wurde eindeutig unterdrückt.
Constanze tat das Schlimmste, was sie mit mir machen konnte und schleppte mich an diesem kalten, grauen Nachmittag an den Ort, den ich am meisten hasste, nämlich zum Kaufhaus.
So, wie ich jetzt aussähe, wollte sie mich auf keinen Fall mit ins Kino nehmen, sagte sie, da müsse sie sich ja schämen. Das war Ansichtssache. Sie war auch nicht gerade der Typ Frau, mit dem ich mich gern in der Öffentlichkeit zeigte. Nur gut, dass mir die Öffentlichkeit egal war. Im Grunde genommen war mir gerade sogar alles egal, sonst hätte ich mich niemals zum Mitgehen überreden lassen.
Constanze hatte kurz vor Weihnachten ihren Führerschein bestanden und hatte von ihrer Oma das alte Auto gekriegt, das selbst auf der Autobahn nicht mehr als 110 km/h schaffte. Seitdem fuhr sie selbst die kürzeste Strecke mit ihrem kleinen Auto, das noch nicht einmal ein Radio hatte. Es hatte sowieso fast nichts. Erstaunlich, dass es über ausgeleierte Anschnallgurte verfügte.
Widerstandslos zog ich meine Jacke an und wickelte mir meinen langen Schal viermal um den Hals. Ich warf einen zweifelnden Blick aus der Tür, wo es kalt und nass war und die Autos so vorbeirasten, als müssten sie die vergangenen freien Tage wieder aufholen.
Constanze fasste mich am Ärmel und zog mich nach draußen, wo mich die Kälte fast erschlug. Warum hörte ich nur auf meine Schwester, warum blieb ich nicht einfach zu Hause? Ich entwickelte so etwas wie einen eigenen Willen, allerdings in noch nicht sehr ausgeprägter Form. Aber ich fühlte mich nicht kräftig genug um zu argumentieren, das war mein derzeitiges Problem. Madeleine winkte aus dem Fenster, als ihre beiden Kinder sich in das hässliche kleine Auto zwängten und lostuckerten. Vermutlich wunderte sie sich nur darüber, warum Constanze sich auf einmal so um mich kümmerte, doch aus keinem von uns hatte sie auch nur ein Wort über die Silvester-Nacht erfahren, und das wunderte sie und machte sie misstrauisch. Ich beobachtete ihren zweifelnden Blick, den sie uns durchs Fenster zuwarf und da wusste ich, dass sie etwas ahnte.
Hinter ihr in einem Körbchen im Wohnzimmer, balgten sich meine Kätzchen. Sie waren die einzigen, mit denen ich noch sprach, als könnten nur sie mich verstehen. Madeleine seufzte und drehte dem Fenster und damit auch mir ihren Rücken zu. Irgendetwas lief hier falsch, doch niemand wollte ihr sagen, was. Am allerwenigsten ich.
Das Auto hatte keine Heizung. Das wurde mir schlagartig bewusst, als ich nach fünf Minuten immer noch entsetzlich fror. Constanze schien von der Kälte nichts zu merken, aber wer das ganze Jahr über mit bauchfreien Tops bekleidet war, verlor vermutlich jegliches Gefühl für Wärme und Kälte. Das Thermometer zeigte vier Grad. Es erschien mir wesentlich kälter und unangenehmer als letzte Woche, als der Schnee noch gelegen hatte.
Das