Schlussakt. Joana Goede

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Schlussakt - Joana Goede

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nahm ich in Kauf, sie zu verlieren und machte mich stattdessen auf die Suche nach meinem wahren Leben und meiner wirklichen Existenz. Es war die denkbar schwierigste Situation, in der man sich befinden konnte, denn ich musste zwischen zwei Fehlern wählen. Auf der einen Seite lauerte Scylla, auf der anderen Charybdis, und beide beobachteten mich mit gierigen Augen, nur darauf wartend, dass ich einen Fehler begehen würde, damit sie leichtes Spiel hatten, mich zu verschlingen.

      Unglücklicherweise war ich kein weiser Odysseus, der auf alles eine Antwort wusste. Ich wusste nur, dass, wenn ich den schwierigen Weg wählen, also mein Zuhause verlassen würde, ich vermutlich genauso lange auf unkontrollierbaren Irrfahrten umher segeln würde, wie mein großes griechisches Vorbild. Allerdings wohl mit weniger Erfolg und ohne festes Ziel, denn mein Ithaka kannte ich noch nicht.

      Ich seufzte bedrückt und ließ den Kopf in meine Hände sinken. Das Motorengeräusch war mir jetzt nur angenehm in den Ohren, da es mir eine Art Schutzwall bot. Ich hatte eine Grenze erreicht, an der ich nicht mehr weiter wusste. Beide Richtungen schienen ins Nichts zu führen und eine schien undurchschaubarer zu sein, als die andere. Das Ziel war ohnehin kaum mehr als ein grober Umriss, von dem ich zwar nicht genau sagen konnte, was er war, der mich aber magisch anzog und mich mit einem Gefühl lockte, dass mir bislang praktisch völlig fremd war, nämlich dem Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit. Prachtvolle Lockvögel.

      Das war also das Ergebnis der letzten Tage und unzähliger Stunden des verzweifelten Nachgrübelns über meine Zukunft. Denn in wenigen Monaten war auch mein einziger Leitfaden, die Schule, dahin, denn dann hatte ich mein Abitur(oder auch nicht, wer wusste das schon?). Dann wäre es an der Zeit, endlich zu entscheiden.

      Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster und schloss die Augen. Wahrscheinlich gab es kein Richtig und kein Falsch. Wahrscheinlich war sogar alles eine große Lüge, auf die ich hineingefallen war, und wohl auch viele andere. Ich musste also überlegen, ob ich stark genug war, um mich dagegen zu wehren, oder ob ich still leiden und es als mein Schicksal annehmen würde.

      In diesem Moment verschwand das Motorengeräusch und es wurde unheimlich ruhig. Ich wurde unsanft angeschubst und genervt riss ich die Augen auf. Es gab Menschen, die ein unleugbares Talent dafür besaßen, einen anderen immer im ungünstigsten aller Momente zu unterbrechen. Gerade jetzt war ich davon überzeugt, dass Constanze genau zu dieser Sorte Mensch gehörte und ich musste mich trotz meines gefassten Gemüts und meiner körperlichen Schwäche stark zusammenreißen, um sie nicht böse anzufahren und es stattdessen mit einem resignierenden Gesichtsausdruck zu ertragen. Aber irgendwann musste sicherlich auch mir der Geduldsfaden endgültig reißen.

      Ich quälte mich aus dem Auto, fühlte mich schwach und eingefroren und blickte zu dem großen, eckigen Gebäude mit der übertrieben bunten Leuchtschrift auf, die verkündete, dass es sich bei diesem außergewöhnlich scheußlichen Klotz um ein sehr modernes Kino handelte, was der Betrachter sich auch unschwer aus der unüberblickbaren Vielzahl an Film-Plakaten hätte erschließen können, doch selbst dieser Schritt wurde ihm abgenommen. Der Zweck dieses Gebäudes war sicherlich meilenweit nicht zu übersehen.

      Ich fühlte mich auf einen Schlag noch unwohler und es widerstrebte mir mich in dieses Gebäude hineinzubewegen und mich irgendeinem fiktionalen Ereignis, das nach allen Regeln der Kunst unglaublich spannend und nervenkitzelnd arrangiert war, als normaler Konsument hinzugeben. Abgesehen davon war ich mir schon, bevor ich alle Plakate eingehend studiert hatte, zweifelsfrei sicher, dass ich mich für nicht eine der beschränkten Thematiken interessieren würde, die hier angeboten wurden. Selbst Historien-Filme standen in dem Ruf, mehr Unterhaltungswert als Informationswert zu besitzen, und dass sie nicht nur zu wenig historische Begebenheiten darstellten, sondern diese wenigen, die es dann doch in die Unterhaltungs-Branche schafften, auch noch völlig verfälscht und zum Teil schlicht und einfach historisch falsch wiedergaben.

      Das spiegelte selbstverständlich nicht die allgemeine Meinung wieder, aber zumindest meine, als ich mit zweifelndem Blick einige dieser Neuerscheinungen begutachtete und sie alle nacheinander verwarf, während sich Constanze mit leuchtenden Augen die Nase an der Scheibe vor den Action - und Horrorfilmen platt drückte, bei deren Anblick mir bereits die Haare zu Berge standen. Leider konnte ich ihr keine überzeugende Alternative bieten und so fand ich mich schließlich im Inneren des Kinos wieder mit einer Tüte Popcorn in der linken und einer Karte für den neusten und blutigsten Horrorfilm in der rechten Hand wieder, welcher eigentlich erst ab achtzehn war, den ich also eigentlich gar nicht hätte besuchen dürfen, was mich noch mehr abschreckte. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal im Kino gewesen war, vielleicht noch nie, vielleicht als kleines Kind, ich wusste es nicht. Wie so viele Erinnerungen aus den vergangenen Jahren war auch diese, sofern eine da gewesen war, einfach verschwunden. So als hätte jemand meine Geschichte umgeschrieben und unwichtige Ereignisse gelöscht um Platz für kommende, wichtigere zu schaffen. Nur dass dieser jemand mich nicht vorher um Erlaubnis gebeten hatte.

      Erschöpft von der langwierigen Eskapade des Einkaufens, wankte ich hinter Constanze die Treppe zu den Vorführräumen hinauf. Die Schwäche in meinem Körper übermannte mich fast. Meine Hand mit der Popcorntüte zitterte. Die rechte Hand formte ich zu einer Faust und als ich die oberste Treppenstufe erreicht hatte, blieb ich kurz stehen, schloss die Augen und holte tief Luft.

      Plötzlich schrak ich zusammen, als mich der Kartenkontrolleur von rechts anstieß und nach der Eintrittskarte verlangte. Ich schwankte einen halben Schritt zur Seite, währenddessen ich die Faust öffnete, wo ich die zerknitterte Karte fand. Der Kontrolleur verdrehte die Augen, nahm die Karte aber trotzdem entgegen und riss eine Ecke ab. Danach stieß er mich zur Seite um eine Gruppe kichernder Teenager mit einem breiten Lächeln zu empfangen. Ich taumelte ziellos weiter, bis ich in dem überschaubaren Gewühl meine Schwester ausmachte, die gelangweilt an der Wand lehnte und nach mir Ausschau hielt. Als sie mich sah, zog sie eine Augenbraue hoch und nahm mich zur Seite. „Du siehst total krank aus“, sagte sie, allerdings ohne mich beleidigen zu wollen. „Ist dir nicht gut?“

      Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Schließlich war ich mir selbst nicht sicher, ob es mir nun wirklich schlecht ging, oder ob ich vielleicht einfach nur Angst vor dem Film hatte. „Ich weiß nicht“, nuschelte ich und wendete mich dann ab, mich nach einer Toilette umblickend, die ich schließlich hinter einer langen Schlange von Kinobesuchern entdeckte. Keine Chance für mich, mir noch schnell etwas Wasser ins Gesicht zu klatschen, denn in diesem Moment wurden schon die Türen zu unserem Saal geöffnet, zu dem ich von Constanze gezerrt und zu unseren Plätzen gelotst wurde. Ich hätte nicht einmal gewusst, in welchen Raum ich musste, geschweige denn, welchen Platz ich besetzen durfte, denn ich hatte bis jetzt noch keinen Blick auf meine Karte geworfen. Es wurde mir auch schlagartig bewusst, dass ich auch nicht wusste, wie der Film hieß, vielleicht hatte ich es vergessen. Oder ich hatte wirklich gar keine Ahnung. Immerhin kannte ich das Genre und konnte mich auf Angst und Schrecken einstellen.

      Constanze hatte schon die halbe Tüte Popcorn geleert, bevor überhaupt die Werbung anfing. Das war übrigens das nächste Indiz, das dafür sprach, dass ich noch kein Kino von innen gesehen hatte. Ich dachte nämlich, dass es, sobald das Licht gelöscht würde, sofort mit dem Hauptfilm losginge, was aber nicht stimmte. Die halbe Stunde voll Werbespots für alles und jeden und haufenweise Filme, die ich fürchterlich fand, stempelte ich sofort als überflüssig ab und so nutzte ich die Zeit, doch noch die Toilette aufzusuchen.

      Der Saal war nicht einmal halb voll, wohl deswegen, weil einige Filme parallel liefen und es an einem Mittwochabend nicht allzu viele ins Kino zog (wie mir Constanze erklärte). Trotzdem bereitete es mir gewisse Schwierigkeiten, mich bis zum Ausgang durchzukämpfen, da meine Reihe fast bis auf den letzten Platz besetzt war. Mir wurde von den ständig wechselnden, riesigen Bildern sehr schnell schummerig, obwohl sich mein Zustand während des Sitzens ein bisschen gebessert hatte. Jetzt erhielt ich auf jeden Fall einen Rückschlag, was mich völlig aus der Bahn warf, allerdings erst, nachdem ich durch die Tür nach draußen gewankt war und mich das grelle Licht der Deckenleuchten vollends schikanierte. Mich an der Wand

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