Schlussakt. Joana Goede
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Ich sah an mir herunter und registrierte zum ersten mal, dass ich noch immer Jacke und Schal trug, aber überhaupt nicht schwitzte. Wahrscheinlich lag es an dem dünnen Hemd, das ich darunter trug, und das die Funktion eines Kleidungsstücks, zu wärmen, offenbar nicht erfüllte. Ich lockerte den Schal um meinen Hals etwas und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die mich schon seit einer Weile störte. Mich an die Wand lehnend verharrte ich, auf Constanze wartend, deren Film allerdings nicht enden zu wollen schien.
Die aus den einzelnen Vorführräumen dringenden Geräusche der unterschiedlichen Filme, waren kaum zu hören. Ich konnte nicht feststellen, was für Filme sonst noch liefen, doch offenbar war der Horrorfilm der lauteste und meist besuchte, denn er wurde im größten Saal gezeigt und seine Töne waren am deutlichsten von den anderen zu unterscheiden. Ich fragte mich, wie ich es wohl solange bei diesem Lärm, eingepfercht mit unzähligen das grausame Schauspiel bewundernden Menschen, ausgehalten hatte, ohne wahnsinnig zu werden. Durch die ungeheure Lautstärke und die rasch wechselnden Bilder, mussten das Gehör und die Sehkraft doch innerhalb kürzester Zeit rapide Verschlechterungen erleiden und der Verstand stumpfte wahrscheinlich beim regelmäßigen Konsum solcher brutalen Filme immer mehr ab. Gut, dass ich mich dem rechtzeitig entzogen hatte. Meine Wahrnehmung funktionierte ja sowieso nicht gut.
Da überfiel mich ein vergessenes Gefühl. Zum ersten Mal in den letzten Tagen verspürte ich tatsächlich so etwas wie Hunger, denn mir fiel auf, dass ich den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. Kein Wunder, dass ich mich so dünn und schwach fühlte und erstaunlich, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war, etwas zu essen und dieses Gefühl zu verbessern. Ich wusste, dass es unten im Foyer etwas zu essen gab, auch andere Sachen als Popcorn. Allerdings hatte ich kein Geld dabei, für das ich mir etwas hätte kaufen können, ich musste also auf meine Schwester warten, damit sie mir etwas besorgte. Folglich verdrängte ich das mulmige Gefühl in der Magengegend und studierte stattdessen eines der Film-Poster, mit denen die Wände praktisch zugekleistert worden waren. Nach einigem Suchen fand ich eines, dass meine Aufmerksamkeit erregte. Es war das Poster, das wohl zu dem Horrorfilm gehörte, den ich soeben aus Protest verlassen hatte. Es zeigte unverkennbar den Hauptdarsteller, der mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts starrte und dessen Gesicht einige blutige Kratzer zierten. Da hatte er wohl doch noch etwas abgekriegt. Im Hintergrund war ein düsterer Wald dargestellt, in dem man vereinzelt Gestalten zu erkennen glaubte, die aber auch nur besonders gespenstisch geformte Bäume sein konnten. Das fand ich nun wieder albern. Hatte ich mich vorhin noch vor eben diesem Wald auf der riesigen Leinwand gefürchtet, so wurde jetzt auf dem Bild überdeutlich, dass es sich nur um Computertechnik handelte, also um nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Da war meine Fantasie wohl mal wieder mit mir durchgegangen und hatte alles schlimmer gemacht, als es eigentlich war. Ich war heute aber auch besonders anfällig.
Meine Uhr sagte mir, dass der Film eigentlich in zehn Minuten enden müsste, wenn er die normale Filmlänge nicht überschritt, das hatte zumindest Constanze gesagt, und die musste es ja wissen.
Ich freute mich immer mehr auf mein Bett und mein Buch, das ich in den letzten Tagen stark vernachlässigt hatte, wie alles andere auch. Ich wüsste nur gern, was genau mich zu dieser Vernachlässigung getrieben hatte. Im Grunde genommen war ich die ganze Zeit mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, doch das Nachdenken hatte zu keinem richtigen Ergebnis geführt. Es war eigentlich gar kein richtiges Nachdenken gewesen, sondern eher ein stilles vor sich hin vegetieren, wie es mir noch niemals passiert war. Dieser Tatendrang wie ein Eisblock, der über Tage angehalten hatte und in gewissem Sinne noch nicht besiegt worden war, hatte mich sehr verunsichert. Vielleicht war ich der melancholische Typ, vielleicht war ich auch völlig introvertiert und gedanklich immerfort realitätsfern, doch was hatte mich zu diesem inhaltslosen Dasein gebracht? Wahrscheinlich war es dieser plötzliche Anfall gewesen, die äußerst schmerzliche Erfahrung am ersten Tag im Neuen Jahr, die mich so verunsichert und erschreckt hatte, dass ich eine Weile gebraucht hatte, um sich wieder aufzurappeln. Nun saß ich hier im Kino, nach einem kleinen Schwächeanfall, den ich so gut es ging vertuschen wollte, um niemanden zu beunruhigen, doch ich selbst war beunruhigt. Es konnte eine Krankheit sein, natürlich, doch irgendetwas sagte mir, dass ich gesund war, kerngesund, dass nur etwas mit meinem Verstand nicht stimmte.
An dieser Stelle schreckte ich selbst zusammen. Wenn mein eigener Verstand an seinem Verstand zweifelte, was blieb dann noch von mir übrig, als eine leere Hülle, angefüllt mit Nichts? Verfiel ich langsam dem Nihilismus? Das konnte doch nicht sein. Das war viel zu absurd.
Ich stierte in eine Ecke des breiten Flurs und fixierte den dunklen Schatten einer Säule. Ich musste mir eingestehen, dass ich Angst hatte. Ich selbst erschreckte mich, ich fühlte mich verfolgt, beobachtet, als wenn irgendjemand Fremdes gewaltsam die Kontrolle über mich an sich gerissen hätte und mich jetzt steuerte, wie ein Spielzeug. Oder hatte ich nur deshalb den Eindruck, weil ich die Kontrolle selbst verloren hatte, durch mein eigenes Unvermögen?
Da war es wieder, dieses Gefühl, dass irgendetwas falsch lief, ein Gefühl, dass mich in letzter Zeit öfter überkam und das mich jedes Mal aufs neue ängstigte. Doch benennen, um was es sich dabei handelte, konnte ich immer noch nicht, obwohl ich sonst doch auf beinahe alles eine Antwort wusste, oder sie mir aus Büchern zusammensuchen konnte. Diese Angewohnheit half mir nur jetzt leider nicht weiter, denn ohne nachgeschaut zu haben, wusste ich, dass kein Buch auf der Welt eine Antwort für mein Problem enthalten konnte, weil es absolut individuell war, eine unglückliche Ausnahme, die gerade mich getroffen hatte, bedingt durch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Die Türen öffneten sich. Kinobesucher strömten heraus. Ich beobachtete sie angeekelt, wie ein Knäuel aus sich windenden Würmern, in sich verknotet und untrennbar, aus dem einfachen Grunde, weil sie alle gleich waren, für mich, den neutralen Beobachter. In der Masse ging das Individuum völlig unter.
So bereitete es mir auch einige Schwierigkeiten, meine Schwester in diesem Trubel aus geschockt und gleichermaßen begeistert blickenden Menschen auszumachen. Zum Glück fand sie mich, den Außenstehenden, der ich durch meine Isolation am Rande des Raumes und vielleicht auch durch meine kränkliche Erscheinung ins Auge stach, also kaum zu übersehen war.
Constanze strebte, hatte sie mich einmal erblickt, direkt auf mich zu, mit dem gewohnten, verständnislosen Gesichtsausdruck, doch sie fragte nicht, meinen abweisenden Blick richtig deutend. Ich wollte jetzt nicht erklären, warum ich diese Grausamkeiten nicht ertragen konnte, weil es sicherlich wieder zu Streit geführt hätte, und für eine ordentlich gegliederte Argumentationskette fehlte mir nun einfach die Kraft. Ich erhob mich von der Bank, als der Besucherstrom etwas abgeebbt war und folgte Constanze die Treppe hinunter ins Foyer, in Richtung Ausgang.