Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel. Gerhard Gemke
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Читать онлайн книгу Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel - Gerhard Gemke страница 10
Jo wischte sich die Augen und sah aus dem Fenster. Der Burghof lag im silbernen Mondlicht. Die Fahnen auf den Wehrtürmen flatterten unruhig. Das Peitschen ihrer Spitzen war durch die doppelten Scheiben kaum zu hören. Zusammen mit der Stille in der Burg ergab es ein gespenstisches Bild. Jo konnte sich einbilden, dass aus den Schatten der Burgmauern Ritter krochen und mit viel zu langsamen Bewegungen über den Hof schritten – nein, schwebten. Knappen trugen ihnen die Lanzen hinterher, Frauen mit spitzen hohen Hüten flanierten über die Zugbrücke.
Mitten auf dem Hof aber lehnte mit blassem Gesicht dieses blonde Mädchen. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen, hob sie die Hand und winkte Jo zu. Und Jo bekam wieder dieses Brennen in der Kehle. Das Mädchen öffnete den Mund. Sie rief etwas.
„Mach die Tür zu!“, kreischte sie, und ihre Stimme durchschnitt die Stille wie eine Kreissäge. Jo erschrak. Augenblicklich waren alle Ritter verschwunden.
„Es geht auch freundlicher!“, fauchte eine andere Stimme, und im Nebenzimmer der Bibliothek fiel eine schwere Tür ins Schloss. Wer auch immer in der Festung geschlafen hatte, jetzt war er wach.
Jo hatte sich blitzschnell tiefer hinter den Vorhang gedrückt. Die Stimmen waren keine Traumgespinste, sie gehörten Tusnelda und Adelgunde. Nach dem geräuschvollen Stühlerücken zu urteilen, machten sie es sich gerade in Papas Büro bequem. Der Raum nebenan diente als Verwaltung der Burg. In ihm befand sich auch das einzige Telefon. Er war geräumiger, als Tusneldas eigenes Arbeitszimmer, was der Grund sein mochte, warum die beiden Schwestern sich hier trafen. Ihre Ehemänner hatten sich mit einer Flasche Portwein im Kaminzimmer verzogen, und die Zwillinge waren unter Protestgeschrei ins Gästezimmer gescheucht worden. Um Jo hatte sich wie üblich niemand gekümmert. So war es auch nicht weiter aufgefallen, als sie plötzlich verschwunden war.
Jo schob den Vorhang zur Seite, um besser lauschen zu können. Das Mondlicht malte Fensterkreuze auf den Parkettboden. An den Wänden der Bibliothek ahnte man die unzähligen Bände, die sich Buchrücken an Buchrücken durch die Regale zogen wie eine schwarzgraue Tapete.
Nebenan waren die beiden offensichtlich beim gemütlichen Teil angekommen. Gläser klirrten, und Tusneldas schepperndes Lachen wechselte mit Adelgundes heiserem Schimpfen. Zunächst konnte Jo kaum etwas verstehen, dann kamen die zwei in Fahrt. Einzelne Worte drangen deutlich herüber.
„Burg Knittelstein“, hörte sie. „Aarne Kyankalismäki … das schöne Bild …“ Als plötzlich der Name Elvira Casaverde fiel, war Jo hellwach. Augenblicklich war ihr klar, worüber sich Adelgunde so lauthals beschwerte.
Was schmierte auch dieser Herr Sonstwas-mäki auf dem blöden Bild herum, dachte Jo. In Zeitlupe (wie die geträumten Ritter auf dem Burghof) glitt Jo von der Fensterbank auf die pechschwarze Tür zu, die die Bibliothek von dem Nebenraum trennte.
„Dieser Kyankalismäki will noch mehr?“, hörte Jo Tusneldas Stimme plärren. Der Rest war unverständliches Gemurmel. Die Baronin war unvermittelt in einen Flüsterton übergegangen. Einen bangen Moment lang dachte Jo, sie wäre entdeckt worden.
Dann aber krächzte Adelgunde wieder ohne jegliche Vorsicht: „Dreißig Fässer!“
„Was soll ich denn machen?“ Tusnelda klang sehr wütend. „Der Sievers findet nichts!“ Jo hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aber was immer die Knittelsteiner Schwestern dort im Nebenzimmer noch verhandelten, jetzt schien es ihnen selbst so heikel, dass kaum ein Laut nach draußen drang.
Jo wurde unruhig. Jederzeit konnte es einer der beiden in den Sinn kommen, die Tür zur Bibliothek aufzureißen, um sicher zu gehen, dass die Wände keine Ohren hatten. Als jetzt noch Wolken das spärliche Mondlicht schwärzten, machte Jo sich auf Zehenspitzen an den Rückzug.
Aarne Kyankalismäki hallte es in ihrem Kopf, wie ein langgezogenes Echo, als sie die schwere Kassettentür zur Ahnengalerie aufschob. Dreißig Fässer! Und Oskar Sievers fand also nichts. Jo erinnerte sich noch lebhaft an das Frühstück, bei dem Tusnelda verkündet hatte, der alte Mann würde ab sofort das Knittelsteiner Labyrinth erforschen. Verstanden hatte das niemand, weder Jo noch ihr Vater. Jahrelang hatte die Baronin jeden Wunsch des betagten Heimatforschers abgeschmettert. Nicht einen Fußbreit hatte sie ihn in die Verliese gelassen. Und plötzlich durfte er da runter. Tropfsteinhöhlen suchen. Für die Touristen, angeblich. Baron Eduard hatte dazu geschwiegen, wie er schon seit langem zu allem schwieg, was Tusnelda von sich gab.
Das Einrasten der Bibliothekstür hallte viel zu laut die Wände der Galerie entlang. Jo rührte sich nicht. Meinhardt der Dicke starrte sie unbeweglich an. Mit seinen Filzstifthaaren in den Nasenlöchern. Tusneldas Lachen quäkte. Die Schwestern hatten nichts bemerkt.
Erst als sie ihre Zimmertür von innen zugedrückt hatte, atmete Jo wieder ruhiger. Über was sich Tusnelda und Adelgunde auch immer unterhalten haben mochten, es gab sicher eine Erklärung dafür. Eine ganz einfache. Und doch, da war es wieder. Jos Magen verkrampfte sich. Das Gefühl, ihrer Stiefmutter nicht über den Weg trauen zu können. Nicht einen Millimeter.
Im Verlies
Es vergingen drei Wochen. Drei Wochen, in denen Jo vom Fenstersims der Bibliothek sah, wie Oskar Sievers beinahe täglich in die Verliese stieg. Neben ihr wippte das Fräulein von Oelmütz wie ein nervöses Huhn, bis ihre spitze Nase fast die Scheibe durchstieß, und langweilte Jo mit den immergleichen Schauergeschichten. Von Ritter Ademar, der sich vor den Kreuzzügen drücken wollte und im Berg verschwand, wo er noch heute … und Jo wünschte das graue Fräulein zum Teufel. Oder noch besser zu Ritter Ademar. Wie gut, dass die in Sommer pensioniert wurde. Das war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, fand Jo. Und sie selbst sollte auf eine öffentliche Schule wechseln. Wieder spürte Jo dieses Brennen in der Kehle.
Und manchmal saß Jo noch spät abends an dem Fenster, wenn die Verliestür aufging, und Oskar herauskroch. Dreckverschmiert, aber vergnügt. Der Alte zwinkerte dem Turmfenster zu, hinter dem er die Baronin vermutete, und trollte sich den Berg hinab.
Am Sonntag, dem 1. Juni schenkte Oskar seiner Elfriede drei goldene Becher.
„Zur Goldenen Hochzeit“, brummelte Oskar.
Elfriede schlang vor Rührung ihren Kamelhaarmantel um seine Schultern, vergoss ein paar Tränen, und brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass er sich um ein volles Jahr verrechnet hatte.
„Ach Oskarchen, mein muffeliger Maulwurf“, murmelte Elfriede und küsste ihm die Glatze. Dann half sie ihm in seine alte Lederjacke und verabschiedete ihren Forscher. Wohin war ihr einmal mehr ein Rätsel. Je dreckiger seine Klamotten waren, wenn Oskar abends müde und abgekämpft heim kam, desto tiefer hüllte er sich in Schweigen. Nur einmal hatte sie ihm ein „Ich darf nicht darüber reden“ entlockt. Dabei war es allerdings geblieben. Elfriede hatte sich längst abgewöhnt, weiter zu bohren. Wenn es ihren Oskar glücklich machte. Noch einen Monat, dann wurde er siebzig. Das Leben hielt keine allzu lange Spanne mehr für ihn und Elfriede bereit. Sollte er forschen und geheimniskrämern wie er wollte.
Hachja. Elfriede versank in ihrem Ohrensessel und in ihren Tagträumen.
Am Samstag, dem 7. Juni lag Jo noch am Mittag in den tiefsten Träumen, als ein höllischer Lärm die Wendeltreppe heraufstolperte. Beziehungsweise zwei höllische Lärme. Jo hatte keine Chance. Kurt und Knut stürmten johlend ihr Zimmer und zerrten sie aus dem Bett.
„Du bist unsere Gefangene“, stellten sie klar.