Die Kinder der Schiffbrüchigen. Jonas Nowotny

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Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny

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und tastete sich, die Beine voran, die zehn Stufen hinunter. Christian erwartete Hitze, doch das Feuer schien kalt zu brennen. Wie war das möglich? Vielleicht hatte er neben dem Zeitgefühl auch sein Schmerzempfinden verloren.

      »Louis? ... Louis?« Christian kniete auf dem Flur des Vorraums. Durch die herabgelassenen Rollläden an den Ausgängen herrschte Dunkelheit. Wenn er sie öffnete, konnte der Rauch abziehen. Doch er wusste, dass es ohne Schlüssel nicht ging.

      »So eine Scheiße!«, hustete Christian. Aus der Toilette sprühten Funken und es zischte, als brenne jemand Feuerwerkskörper ab. Wer zündet Toiletten an? Warum? Christian kniff die tränenden Augen zu und tastete sich in Richtung WC. Er fühlte nach dem Türgriff, fand ihn und schloss die Tür. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Rauch sich über das Oberdeck verzogen hatte. Von oben drangen panische Schreie. Christian sank auf die Knie und robbte weiter. Endlich erreichte er die Bar. Beißender Qualm ließ ihn Louis nicht klar erkennen. Atmete er noch? Vorsichtig richtete Christian sich auf, nahm das Hemd vom Gesicht und wickelte das Kind damit ein … Jetzt lief rumpelnd ein Ruck durch das Schiff und warf ihn zu Boden. Er knallte mit dem Kopf gegen einen Tisch. Benommen vergewisserte er sich, dass Louis unversehrt war. Sein Sohn atmete flach.

      »Alles von Bord! Schnell!« Christian konnte die Richtung der panischen Stimmen nur ungefähr ausmachen. Sie schienen überall zu sein. Er kroch in die Richtung, wo er den Ausgang vermutete. Der Schlag gegen den Kopf hatte ihm die Orientierung genommen – oder war es der Rauch, der ihm die Besinnung raubte? Louis hustete schwach; dann ging sein Husten in ein klägliches Weinen über.

      »Nur ruhig, Louis, Daddy bringt dich heil hier raus!«

      Christians Stimme vermochte Louis nicht zu trösten. Das Baby begann zu schreien. »Nicht so tief einatmen, Schatz!«, flüsterte Christian. Er robbte so flach am Boden, wie es ihm mit einem Säugling im Arm möglich war. Wo war nur der verfluchte Ausgang? Ein flacher Atemzug zwang ihn wieder zum Husten. Tränen und Staub klebten ihm im Gesicht, und der Qualm verbarg den Fluchtweg. Panik überkam ihn.

      »Hilfe ...«, versuchte er sich bemerkbar zu machen.

      Louis' Klagen war verstummt. Der Raum drehte sich vor Christians Augen. Schwindel übermannte ihn. Wo war er? Christian taumelte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.

      »Chris? Seid ihr hier?«, schrie Alexander.

      »Hier unten«, keuchte Christian. Sofort brandete ein schmerzhafter Husten los, und Angst, ersticken zu müssen, übermannte ihn. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Erst, als Alexander ihn am Arm nach oben zerrte, begriff er wieder, wo er war. Louis lag wie tot in seinem Arm.

      »Er atmet nicht mehr!«, keuchte Christian und sackte auf die Knie.

      »Gib ihn mir!«, forderte Alexander. Christian begriff nicht sofort; in seinen Schläfen pochte Schmerz.

      »Gib mir Louis!«, wiederholte Alexander und nahm ihm das Baby ab.

      »Er atmet nicht … er atmet nicht«, stöhnte Christian.

      »Komm!«, sagte Alexander und zog ihn auf die Beine. Er schleppte beide mit sich. Ein Schwall frischer Luft schlug ihnen befreiend ins Gesicht, als sie das Oberdeck erreichten. Christian hustete sich den Qualm aus den Lungen, seine Augen brannten.

      »Atmet er? Alex, atmet er?«

      Alexander zog ihn weiter. »Wir müssen runter vom Schiff, Schatz!«

      Tränen trübten Christian den Blick. Wie lange war Louis dem Rauch ausgesetzt gewesen? Es mussten ein paar Minuten gewesen sein. Das Schiff legte jetzt an; die Gäste flüchteten über einen Notsteg, der wie eine Rutsche vom Oberdeck ans Ufer führte, von Bord. In der Ferne hörte er ein Martinshorn.

      »Geh von Bord!«, befahl Alexander. Christian gehorchte. Wie benommen rutschte er den Steg hinunter und wurde von Rüdiger abgefangen. Der Freund führte ihn ein paar Schritte weg und setzte sich mit ihm an den Wegrand. Christian sah, wie jetzt auch Alexander mit Louis von Bord rutschte. Sofort bettete er ihn auf die Erde und legte das Ohr über seinen Mund. »Atme!«, beschwor Alexander das Baby. Ein neuer Schwall Panik stieg in Christian empor. Wie in Trance sah er, wie sein Mann die Lippen über Louis‘ Näslein und Mund legte und Luft hineinpustete, ganz so, wie sie es in den Erste-Hilfe-Kursen für Babys gelernt hatten. Nein! Nein! Lähmende Angst kroch in ihm hoch. Sie durften Louis nicht verlieren! Er liebte ihn! Er konnte nicht mehr ohne dieses kleine Geschöpf leben! Ein neuer Hustenanfall ergriff ihn, und er spürte einen stechenden Schmerz in den Lungen. Flüchtig nahm er die Anetta wahr, wie sie auf den Wellen schwankte, in einem ruhigen Schleier von Rauch stehend. Die Heliumballons ragten wie bunte Köpfe aus dem Nebel.

      »Komm schon, atme, verdammt!«, fluchte Alexander leise, senkte den Mund und blies erneut Luft in die winzigen Lungen des Kindes. Das Heulen von Sirenen gellte schmerzhaft in Christians Ohr. Ein Feuerwehrauto bremste so heftig vor seinen Augen, dass der Splitt aufspritzte. Sofort sprangen drei Männer heraus und machten sich an dem Wagen zu schaffen. Hinter dem Löschwagen folgte jetzt ein Krankentransporter mit kreisendem Blaulicht. Christian stolperte auf ihn zu.

      »Kommen Sie! Kommen Sie, mein Sohn erstickt!« Er zog den Arzt am Kittel aus dem Wagen und schleppte ihn zu Alexander, der noch immer versuchte, Louis frische Luft in die Lungen zu pumpen.

      »Wie lange atmet er schon nicht mehr?«, fragte der Arzt.

      »Fünf … vielleicht sieben Minuten«, stotterte Alexander. Christian starb beinahe an Alexanders besorgten Blick. Dann sprach Alexander jene Worte, die Christian noch lange begleiten sollten: »Wie konntest du ihn nur allein lassen.«

      Jeder einzelne Buchstabe des Satzes versetzte Christian einen schmerzhaften Stich. Er wollte protestieren; schließlich hatte doch Alexander darauf bestanden, das Babyphone zu nehmen, um das Kuchenbuffet zu eröffnen. Doch er schwieg, ließ sich auf den Weg sinken und verbarg den Kopf zwischen den angewinkelten Knien. Atme, Louis, atme!, flehte er stumm.

      ***

      Die Feuerwehrmänner kamen schon wieder von Bord, zogen sich die Gasmasken vom Gesicht.

      »Da ist nur ein kleines Feuer auf dem Schiff«, erklärte der Brandmeister Richtung Thalberg gewandt.

      »Aber der viele Rauch?«, antwortete dieser verdattert.

      »Eine Rauchbombe. Da hat sich einer Ihrer Gäste offenbar einen schlechten Scherz erlaubt.«

      »Ein Scherz?«, schrie Christian und sprang auf. Ich kann mir schon denken, wer dahinter steckt, dachte er und blickte sich suchend um. Doch er entdeckte kaum ein bekanntes Gesicht. Die zahllosen Menschen, die sich um das Geschehen versammelt hatten, waren Schaulustige.

      »Er atmet!«, rief der Arzt, über Louis gebeugt.

      Um Christians Herz wurde es leichter. Er ging zu Alexander.

      »Machen Sie weiter!«, wies der Arzt ihn an, »ganz langsam und gleichmäßig pumpen!« Er übergab Alexander die Beatmungshilfe, die einem Blasebalg ähnelte. Christian sah den Schlauch, den sie Louis in das dünne Ärmchen gesteckt hatten …

      »Er darf nicht sterben!«, keuchte Christian. Ihm wurde schwarz vor Augen. Taumelnd sackte er zu Boden. Von weit her hörte er Alexander sagen: »Er hat ordentlich Rauch abbekommen.«

      Dann verdichteten die Worte sich zu einem unverständlichen Klumpen. Um Christian wurde es still.

      

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