Der Schneeball. Neo Tell

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Der Schneeball - Neo Tell

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sie glaubte, nur damit Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit wachrufen zu können. Mit deren Hilfe wollte sie das soeben Geschehene aus ihren Gedanken ein für alle Mal tilgen.

      Das letzte Mal war die Alster 2012 so fest zugefroren gewesen, dass die Stadt das Eis für das Volksfest freigegeben hatte, welches die Hamburger Alstereisvergnügen nannten. Jene märchenhaften Stimmungen waren wieder einmal entstanden, die den Bürgern Hamburgs keine Zweifel daran ließen, dass sie in der schönsten Stadt der Welt lebten. Überall an den Ufern wurden Buden aufgestellt, die Glühwein, warmen Kakao, heiße Maronen, Bratwürste und allerhand anderes feilboten. Wo ansonsten Boote an den Stegen der zahlreichen Ruderhäuser und kleinen Marinas anlegten, sammelten sich Menschentrauben. Aus manchem Lautsprecher ertönte Musik und das Eis wurde zur Tanzfläche. Anstatt den Landweg zu wählen, nutzten die Hamburger fortan die zugefrorenen Fleete und Kanäle, um zu Fuß, in Schlittschuhen oder auf von ihren Hunden gezogenen Schlitten zur Alster zu gelangen. Obwohl offiziell untersagt, konnte man frühmorgens den einen oder anderen Eissegler erspähen, wie er im Sonnenaufgang nahezu lautlos über die leere Eisfläche schoss.

      Vor 2012 hatten die Buden sogar mitten auf dem Eis gestanden. Als kleines Mädchen war Rosa mit ihren Eltern in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Schlittschuhen durch ganz Hamburg gefahren. Seitdem liebte sie dieses Venedig des Nordens abgöttisch. Doch die Erinnerung daran konnte ihren Ekel nicht vertreiben.

      Sie war inzwischen schon eine gute Viertelstunde mitten auf dem Eis unterwegs. Es knackte zwar ab und an gespenstisch, hielt ihrem Gewicht aber stand.

      Plötzlich war ihr speiübel. Rosa fasste sich unwillkürlich an ihren Bauch, wo die Kleidung unter der Jacke pitschnass von der Milchkaffeelache war, in der sie während der unsäglichen Tat gelegen hatte. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Als sie wieder aufblickte, erkannte sie, dass sie sich genau vor dem Eingang zum Uhlenhorster Feenteich befand. Etwas zog sie dorthin. Sie unterquerte eine Brücke und befand sich bald auf dem im Verhältnis zur Alster kleinen Oval aus Eis.

      Ringsherum standen zumeist weiße Patrizierhäuser, die genauso von vergangenem wie von neuem Reichtum der Kaufmannschaft der Hafenstadt sprachen. Die großzügigen Gärten reichten hinunter bis zur hölzernen Spundwand des Feenteichs. Auf dem Steg eines Privatanlegers sah sie einen Mann rauchen, der ihren Spaziergang auf dem dünnen Eis offensichtlich missbilligte, jedenfalls folgerte Roas dies aus seinem langsamen Kopfschütteln. Durch die raumhohen Fenster der Villen konnte sie einen Blick in die hell erleuchteten Zimmer auf die üppig geschmückten Weihnachtsbäume des Großbürgertums erhaschen.

      Eine wehmütige Stimmung befiel sie und ertränkte für einen kurzen Moment die Abscheu davor, dass sie noch immer das Stakkato von von Schirachs schmerzhaften Stößen in ihrem Unterleib zu spüren glaubte. Sie selbst hatte einmal zu diesem Großbürgertum gehört, war noch immer Tochter eines berühmten Hamburger Reeders, Schiffsfondsinitiators und Senators. Als Absolventin der Bucerius Law School war sie zwei Jahre lang angestellte Anwältin mit besten Karriereaussichten im Hamburger Büro einer großen US-amerikanischen Wirtschaftskanzlei gewesen.

      Doch dann hatte sie sich mit ihrem Vater zerstritten und alsbald auch mit dem Rest der Familie gebrochen.

      Warum?

      Eines Tages hatte sie im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihn gewartet und hatte dabei aus Langeweile durch einen auf dem Schreibtisch liegenden Stapel Verträge geblättert. Mit einem Schaudern realisierte sie, dass ihr Vater seine Anleger systematisch betrog. Sie konfrontierte ihn damit, er wiegelte ab, forderte ihre bedingungslose Loyalität, appellierte an ihren Familiensinn, rief ihr in Erinnerung, wie auch sie zeit ihres Lebens von seinem Geld profitiert und feudal gelebt hätte.

      Der Streit war heftig, aber letzten Endes versprach sie ihm, niemandem davon zu erzählen. Um trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können und weder direkt noch indirekt aus den illegalen Machenschaften ihres Vaters Vorteile zu ziehen, mied sie ihren Vater und seine neue Familie, nahm keinen Cent mehr von ihm an. Ihren gut bezahlten Anwaltsjob hängte sie kurz drauf ebenfalls an den Nagel, hatte man sie dort doch vor allem auch deshalb so gern eingestellt, weil ihr Vater einer der größten Mandanten der Kanzlei war.

      Mit einer Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie rückblickend bisweilen heute noch in Erstaunen versetzte, hatte sie sich seit zwei Jahren nun komplett dem investigativen Wirtschaftsjournalismus verschrieben. Wenn sie es schon nicht übers Herz brachte, ihren Vater der gerechten Strafe zuzuführen – so die Logik ihres Ablasshandels –, wollte sie zumindest dafür Sorge tragen, dass anderen Schuften in der von Schuften nicht gerade armen Wirtschaftswelt das Handwerk gelegt wurde.

      Aber wohin hatte sie das gebracht?

      Diese Frage hämmerte geradezu unerbittlich auf die feinfühlige Klaviatur ihrer zarten Seele, als in Rosas Tasche etwas vibrierte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und las darauf die folgende Textnachricht:

       Liebe Rosa, dass es eben noch einmal zwischen uns zum Sex gekommen ist, bereue ich sehr. Nicht nur, weil ich meine Frau betrogen habe, sondern auch, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen, ich dich nicht verletzten will. Nicht zuletzt um deinetwillen muss es bei dem bleiben, worum ich dich kurz zuvor so nachdrücklich gebeten habe: Lass uns mit den Frivolitäten um Gottes Namen aufhören! Ich flehe dich an! Ich bin sicher, dass du bald ebenfalls jemanden finden wirst, mit dem du glücklich sein kannst, jedenfalls hoffe ich das inständig!

      Sie schäumte vor Wut. Was für eine zum Himmel schreiende Farce! Rosa durchschaute von Schirachs mieses Spiel augenblicklich. Er agierte strategisch, schaffte schon jetzt in kühl-berechnender Vorausschau die Voraussetzungen, auf denen seine Verteidigung aufbauen würde. Die Nachricht diente einzig und allein dem perfiden Zweck, sie im Falle eines Gerichtsprozesses als eifersüchtige, rachedurstige Lügnerin dastehen zu lassen, während er sich darin den Heiligenschein eines zwar treulosen, nichtsdestominder aber reumütigen, ihr gegenüber gutmeinenden Opfers aufsetzte.

      Plötzlich erschien eine weitere Nachricht auf dem Display:

       Sehr geehrte Frau Peters, ich habe unser letztes Treffen sehr genossen. Leider konnte ich Ihnen damals noch nicht weiterhelfen. Jetzt glaube ich, etwas zu haben, was Sie und Ihre Leser interessieren könnte. Bitte melden Sie sich möglichst bald bei mir! Mit freundlichem Gruß, Deniz Gül

      Für einen kurzen Moment mischte sich ein Klecks Neugier unter die dunklen Farbmassen aus Wehmut, Ekel und Wut auf Rosas Gefühlsleinwand. Dann überließ die Neugier wieder der Wehmut, dem Ekel und der Wut allein das Feld. Dann wichen auch die Wehmut und der Ekel; zurück blieb die Wut.

      Dann brach Rosa durch die Eisdecke.

      4 – Im Feenteich

      Während am Feenteich schon in der Sekunde nach ihrem Einbruch wieder friedliche Weihnachtsstille herrschte, focht Rosa unterhalb der Eisdecke einen verzweifelten Todeskampf aus. Das schwarze Loch, das sie gerade scheinbar aus dem Nichts verschluckt hatte, glich jenen astronomischen Phänomenen gleichen Namens, in die Materie nur hineinfallen, nicht aber wieder herausgelangen konnte.

      Anfangs hätte für Rosas Begriffe die beinahe widerstandlose Masse, in der sie unmittelbar intuitiv zu strampeln begann, genauso gut die dunklen Weiten des Weltraums sein können. Erst als die berühmten tausend Eiswasser-Stecknadeln, von denen über die Jahrhunderte Überlebende so vieler Schiffbrüche berichtet hatten, sie zu malträtieren begannen, ging ihr auf, was passiert sein musste. Sofort versuchte sie verzweifelt, zur Oberfläche zu schwimmen.

      Doch in dem Moment, in dem sie eigentlich aufzutauchen hoffte, stieß sie mit ihrem Kopf auf Granit.

      Der höllische Schmerz durchzuckte wie ein gleißender Miniaturblitz ihren Körper. Gleichzeitig

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