Die Servator Verschwörung. Jürgen Ruhr
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Ron ließ sie nicht ausreden: „Keine Sorge. Ich bin ja jetzt hier. Wenn also etwas sein sollte, so kannst du dich ruhig an mich wenden.“
Zurück an seinem Arbeitsplatz vertiefte der neue Onlineredakteur sich direkt in die aktuelle Zeitung. Es würde nicht lange dauern, die Berichte zu aktualisieren. Eine Aufgabe, die die Praktikantin schon längst hätte erledigen können. Den Nachmittag würde er dann dazu benutzen, die ersten von Fellger auferlegten Themen durchzuarbeiten.
„Soll ich dir etwas mitbringen?“ Maike riss ihn aus seinen Gedanken. Ron wusste zunächst nicht, was das Mädchen meinte und sah sie nur fragend an.
„Na, etwas zu essen“, erklärte sie dann auch ein wenig unwirsch, so als wäre es selbstverständlich, dass er wissen müsste, was ihre Frage zu bedeuten habe. „Ich gehe zum Chinesen um die Ecke. Wenn du auch etwas möchtest ...“
Ron nickte: „Okay, bring‘ mir irgendetwas mit.“ Ein gewisser Hunger machte sich jetzt bemerkbar, die letzte karge Mahlzeit hatte er im Flugzeug zu sich genommen.
„Und was?“ Maike hielt ihm eine Liste hin. „Such‘ dir etwas aus.“
Ron warf einen Blick auf die Liste und wählte irgendetwas mit Nudeln. Im Grunde war es ihm völlig egal, was er essen würde. Maike nickte und sah ihn abwartend an.
„Noch etwas?“ Ron wusste nicht, was die Blonde jetzt noch von ihm wollte.
„Geld, ich brauche Geld. Zwölf Euro fünfzig.“ Sie tippte auf die Liste. „Das Gericht kostet zwölf fünfzig!“
Ronald kramte in seiner Geldbörse und brachte drei fünf Dollarnoten zum Vorschein. „Ich habe leider noch keine Euro, geht das hier auch?“
Maike schüttelte den Kopf: „Nee, die nimmt hier keiner. Die müssen erst gewechselt werden. Aber die Banken haben jetzt zu. Also, ohne Euro läuft hier nichts.“
„Kannst du mir das Geld vorstrecken, ich zahle es dir dann morgen zurück.“
Die Praktikantin sah Ron abschätzend an: „Ungern. Aber ausnahmsweise einmal. Du musst es mir aber morgen ganz bestimmt zurückzahlen! Nicht, dass du das dann vergisst.“
Ron widmete sich wieder seiner Aufgabe. In der Mittagspause würde er anhand eines Stadtplans eine günstige, in der Nähe gelegene Pension und eine Bank ausfindig machen. Jetzt bereute er, diese Dinge nicht schon von Amerika aus geklärt zu haben. Aber ehrlich gesagt hatte er auch nicht damit gerechnet, hier direkt so eingespannt zu werden. Vielleicht ließ Fellger ihn ja ein wenig früher gehen, so dass er noch etwas erledigen konnte.
Die Blonde kam erst fünfundvierzig Minuten später zurück. Entweder befand sich der Chinese doch weiter entfernt als gedacht, oder sie legte die Pausenzeiten sehr großzügig aus. Dafür waren die Nudeln lieblos in eine Pappschachtel gequetscht und ziemlich kalt. Ron nahm sich vor, zukünftig auf dieses chinesische Essen zu verzichten.
Seine Arbeit dagegen zeigte deutliche Fortschritte. Auch hatte er inzwischen ein Zimmer in einer kleinen Pension bekommen können. Und das noch nicht einmal sehr weit von der Redaktion entfernt. Es befand sich sogar eine Bank auf dem Weg zu seiner neuen Unterkunft, so dass er sich ebenfalls mit Bargeld würde versorgen können.
Den Rest der kalten Nudeln entsorgte er schließlich im Papierkorb. Dann wandte er sich den Aufgaben zu, die eigene Recherchen erforderten. Hierbei handelte es sich ausschließlich um lokale Ereignisse. Ein Fußballspiel irgendeiner unbekannten Mannschaft gegen einen ebenso wenig bekannten Gegner, die Eröffnung einer Ausstellung impressionistischer Bilder eines Berliner Künstlers, das Konzert einer Laienmusikergruppe oder irgendein Straßenfest. Der interessanteste Termin schien noch die Gerichtsverhandlung gegen einen Einbrecher zu sein. Ron notierte sich die Daten. Es würde genügen, bei allen Veranstaltungen jeweils kurz anwesend zu sein und ansonsten den Rest seiner Phantasie zu überlassen. Er seufzte. Sicher: Er hatte nicht erwartet, besonders anspruchsvolle oder interessante Themen vorzufinden. Das würde hier kaum anders sein, als in New York. Aber Ron wusste auch, dass es die spontanen und plötzlich geschehenden Dinge waren, die seinen Beruf erst interessant machten. Ein Überfall, ein Unfall oder einfach die selbstlose und aufopfernde Hilfsleistung eines Menschen. Dinge, über die es sich zu berichten lohnte. Wie in New York würde es auch hier in Berlin an diesen Vorfällen kaum mangeln.
Wider Erwarten zeigte sich Fellger großzügig und gab ihm den Rest des Nachmittags frei. Ron wollte dem Chefredakteur noch seine Ergebnisse und die Aktualisierung der Onlineseite präsentieren, doch der winkte lediglich ab. Dabei gab er sich alle Mühe, seine Rotweinfahne zu verbergen.
Ronald lernte seine neuen Kollegen am nächsten Morgen kennen, auch wenn der kranke Egon Müller noch fehlte. Die Begrüßung fiel freundlich aus, man konnte merken, dass die beiden froh waren, Verstärkung zu bekommen. „Ronald Nayst“, stellte er sich vor.
„Dirk Meizel, du kannst Dirk zu mir sagen.“
„Zinad Changa, für dich Zinad.“
Sie schüttelten sich die Hände. „Okay“, grinste Ronald, „für euch Ronald oder besser Ron. So nennen mich meine Freunde.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile und Ron beschloss, dass die beiden eindeutig zum netten Teil der Belegschaft gehörten.
Die kleine Pension, die er sich tags zuvor ausgesucht hatte, erwies sich als Glücksgriff. Es handelte sich um ein Stadthaus, gerade einmal vier Straßen von der Redaktion entfernt und zu Fuß gut zu erreichen. Eine ältere, sehr freundliche Dame, wies ihm ein großzügiges Zimmer im ersten Stock zum Hof hinaus zu. Dabei betonte sie mehrere Male, dass es sich um das schönste und ruhigste Zimmer handele. Ron war zufrieden. Der Raum war hell, modern möbliert und sehr gepflegt. Es stand ihm ein Fernseher zur Verfügung und das Haus verfügte sogar über einen Internetzugang. Selbst ein kleiner Safe befand sich ein wenig versteckt in einem der Schränke. Ron würde eine eigene Zahlenkombination einstellen können, müsste aber beim Auszug diese wieder löschen. Und ein umfangreiches Frühstücksbuffet würde er morgens in dem kleinen Gemeinschaftsraum vorfinden. Er verstand sich mit der kleinen, älteren Frau auf Anhieb prächtig.
Am nächsten Tag klopfte Ron, kurz bevor der Chefredakteur wieder in seine verfrühte Mittagspause verschwand, an dessen Bürotür. Nach einem unwirschen ‚Herein‘ betrat er den Raum.
„Herr Nayst, was kann ich für sie tun?“
„Es geht um meine Termine. Ich habe mir die Themenvorgaben angesehen und ich mü...“
Fellger unterbrach ihn: „Völlig freie Hand, mein Lieber. Sie haben völlig freie Hand. Und arbeiten sie selber einmal weitere Themen aus. Am besten sie schauen einmal in die lokale Presse, was hier so los ist.“ Fellger lachte leise. „Ich kann ihnen zwar hin und wieder Themen vorgeben, aber sie sind ja ein großer Junge ...“ Wieder lachte er. Dann sah er Ron fragend an: „Oder ist sonst noch etwas?“
Ron schüttelte den Kopf: „Nein, nein. Ich wollte lediglich die Termine mit ihnen durchsprechen.“
„Freie Hand. Machen sie ihre Arbeit und so lange alles flutscht ...“ Auch diesen Satz ließ der Chefredakteur unbeendet. Ron stellte sich vor, dass der Mann seine Artikel ebenfalls unbeendet lassen würde. Aber da hatte Fellger ihn schon wieder hinauskomplimentiert.
‚Auch gut‘, dachte Ron. ‚Völlig freie Hand‘. Aber was war mit den Redaktionssitzungen?