Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
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Dann setzt sie sich der Fotografie ihres Mannes gegenüber und schüttet vor ihm alles aus, was sie bedrückt und bekümmert. Es kommt auch vor, dass sie das Bild die Nacht über neben ihrem Bett stehen hat. Wenn sie nicht schlafen kann, dann zündet sie sogar ein Licht an und spricht solange mit ihm, bis sie darüber müde wird und am Ende einschläft.
Plötzlich ist Rahul da; niemand hat seine Taxe gehört, kein Rufen, nichts. Zaghaft klopft er zuerst mit dem Finger ans Tor, aber das hört nicht einmal der Hund, bis er einen Stein nimmt. Augenblicklich kläfft Himbeere los und springt am Tor hoch.
Die alte Frau geht entschlossen hinter Raju her, sie scheint zu wissen: da klopft ihr erstgeborener Sohn ans Tor, der, auf den sie seit langem wartet. Nach Raju begrüßt sie ihn, und wie es die Sitte verlangt, versucht Rahul ihre Füße mit der Hand zu berühren, dabei taumelt er und droht hinzuschlagen, so dass Raju ihn halten und aufrichten muss. Erst als das Tor geschlossen ist, streichelt und befingert sie ihn und will ihn nicht mehr loslassen.
Raju, der die Taxe bezahlte, weil Rahul nicht einmal mehr dafür Geld hat, ist über den Anblick des Bruders erschreckt. Rahul ist abgemagert und aschgrau im Gesicht, er ist einem Tier ähnlich geworden, einem halbverhungerten, vernachlässigten Tier. Die Augen liegen tief in seinem haarlosen Schädel, und während er langsam auf das Haus zugeht, sieht er sich verwundert um, als wäre er das erste Mal in diesem Hof. Immer noch hängt die Mutter an seinem Arm und behindert ihn beim Gehen, und mit dem Gehen hat Rahul Mühe: Er tappt wie ein Greis, unsicher und stolpernd und ist darauf bedacht, schnell irgendwo Halt zu finden.
Vor der Terrasse muss er einen Augenblick warten, bevor er die wenigen Stufen zum Haus hinaufsteigt. Durch ihren Griff schiebt die Mutter die Haut seines Armes zusammen, als hielte sie einen schlaffen Luftballon. Sie sieht das nicht, ihre Augen hängen an seinem eingefallenen Gesicht, aus dem Kinn und Wangenknochen hervorspringen und das jetzt schon dem eines Toten gleicht. Rahul holt mehrmals tief Luft, dann müht er sich die Stufen hinauf. Er lässt sich auf den nächsten Stuhl fallen.
Raju steht vor ihm und blickt auf seinen herabgekommenen, halbtoten Bruder hinab.
„Bist du den weiten Weg allein, ohne Begleitung gekommen?“, fragt er.
„Ja“, sagt Rahul, „ganz allein, von Delhi bis hierher.“
Und vorsichtig, mit verzerrtem Gesicht, streckt er sich etwas in die Höhe. Im Sessel dürfe er nicht mehr sitzen, erklärt er, da würden die Schmerzen in seinem Innern bis ins Unerträglich steigen, und ohne Hilfe käme er da nicht heraus. Alle umstehen ihn, als erwarteten sie etwas Besonderes von ihm. Rahul lächelt dünn zu ihnen auf, und weil keiner spricht, sagt er, die letzten Monate hätten er und Savita wieder in Nepal verbracht, das Klima wäre ihm gut bekommen.
„Da wäre ich gerne bis zu meinem Ende geblieben ...“ spricht er gegen den Fußboden.
Die Mutter hat sich neben ihn gesetzt, stumm tätschelt sie seinen welken Arm. Dann sieht sie zu Raju auf, und in ihrem Blick glaubt der so etwas wie Vorwurf zu erkennen.
Barbara hat für den Schwager Tee kochen lassen, den er nicht trinken mag. Sie setzt sich mit der Tasse auf die Couch und hört zu, was gefragt und geantwortet wird. Aber das ist wenig, Rahul scheint von der Reise müde zu sein, oder gewisse Fragen einfach zu überhören und nicht antworten zu wollen.
Seufzend ist die Mutter nach oben gegangen, und als sie wiederkommt, bringt sie das Foto ihres Mannes. Ob er wisse, dass der Vater tot sei, fragt sie ihn. Überall hätten sie nach ihm und Savita forschen lassen – vergeblich. Umsonst! Seine Pflicht wäre es gewesen, alles Notwendige für die Verbrennung des Vaters zu regeln, denn er wäre das älteste ihrer Kinder.
Rahul zeigte keine Regung, ja, er sieht das Bild nicht einmal an, das die Mutter vor ihn auf den Tisch gestellt hat. Wahrscheinlich sei er nur müde und entkräftet, meint sie schließlich, weil Rahul wie eine Figur dasitzt und ins Leere starrt.
„Wird deine Frau auch noch kommen“, fragt sie ihn.
Rahul sieht sie verständnislos an und schweigt weiter.
„Sie ist doch deine Frau und muss da sein, wo du bist! Sie hat sich um dich zu kümmern, mein Sohn.“
Ohne Rücksicht auf den Bruder sagt Raju: „Mutter, das hat sie wohl nie getan. Egal, um welche Arbeit es sich gehandelt hat – sie hat es immer verstanden, ihr aus dem Weg zu gehen. Und das hier ...“, Raju nickt zu seinem Bruder herunter, „eine solche Last hat sie nicht tragen wollen. Das ist ihr zu schwer und zu mühselig, vielleicht auch zu verantwortungsvoll.“
Seufzend, wie verzweifelt wirft die alte Frau ihre Arme in die Luft, sie versteht gar nichts mehr.
Raju bringt seinen Bruder nach oben, wo die Mutter eilfertig hierhin und dorthin läuft, ohne etwas zustande zu bringen, ohne zu wissen, was sie eigentlich will.
Rahul wird aufs Bett gelegt, das von der Mutter seit langem schon für ihn vorbereitet worden ist. Er streckt sich aus und seufzt und schließt erlöst die Augen. Wenn er niemanden sieht, ist ihm wie im Krankenhaus, da fühlte er sich trotz des Betriebs um ihn herum allein, manchmal sogar weit weg, weil er nichts sah und auf nichts zu reagieren hatte.
Den ganzen Tag bleibt die Muter in seiner Nähe, sie geht nicht einmal zum Essen nach unten, Barbara muss ihre und Rahuls Mahlzeiten nach oben tragen.
„Rahuls Ehe ist von den Eltern vermittelt worden“, sagt Raju zu ihr. „Und was ist daraus geworden? Beständig ist sie auch nicht! – Ich glaube fest daran, dass Savita sich abgesetzt hat. Ihr Mann ist nicht nur krank, er ist auch arm – warum soll sie mit ihm dieses Leben teilen?“
„Was meinst du: Ist sie zu ihren Eltern zurückgegangen?“
„Ich weiß es nicht. Früher oder später werden wir es erfahren. Vielleicht lebt sie wieder bei ihren Eltern, vielleicht lebt sie in einem Ashram.“
Raju krault nachdenklich den Riesenschnauzer, der sich auf seine Füße gelegt hat. Er spricht mehr zum Hund, als er sagt:
„Rahul haben wir vorerst aufgenommen, für seine Frau ist in unserem Haus kein Platz mehr, das verspreche ich dir. Du brauchst nichts zu befürchten ...“
Barbara atmet tief auf, sie möchte ihm glauben.
5
Heute will sich Barbara von Kali in die Stadt zu jenem Haus fahren lassen, in dem sich europäische Frauen indischer Männer bei der Pastorin Sonnenberg treffen.
Wartend steht Kali im Schatten der Kokospalmen, und als Barbara die Terrasse herunter kommt, öffnet er der Memsabib den Wagen, wie er es bei hochgestellten Persönlichkeiten beobachtet hat, ernst und mit einer leichten Verbeugung.
Ashim läuft zum Tor und drückt es sperrangelweit auf, neben sich Himbeere, die sich nicht festhalten lassen will.
Außerhalb des Zentrums fährt Kali so, wie auch Raju den Wagen fährt – ruhig und gleichmäßig und besonnen. Er schweigt und auch Barbara schweigt, sie können sich nicht unterhalten. Sobald er sich dem Gewühl des Zentrums mit den breiten Straßen und unzähligen Ampeln nähert, verspannt er sich. Leicht über das Lenkrad gebeugt, knurrt er leise vor sich hin und hupt, wenn er warten muss. Kommt ein anderer Wagen ihm zu nahe, dann streckt er seinen Arm aus dem Fenster, um ihn auf Abstand zu halten. Ihn ärgern die Ochsenkarren und Rikschas, aber wenn vor