Kuss der Todesfrucht. Agnes M. Holdborg
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»Guten Morgen, liebe Zuhörer, es ist Samstag, der ...« Die restliche Ansage ging in dem Rauschen unter, das sich explosionsartig in Manuelas Hirn ausbreitete. Rauschen, Schwindel, schlagartig einsetzende rasende Kopfschmerzen übernahmen das Regiment, machten es ihr unmöglich, einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen.
»Samstag?«, rief sie aus. »Wieso Samstag? Heute ist Freitag, verdammt nochmal, Freitag, Freitag, Freitag!«
Der Schwindel wurde stärker, ließ sie taumeln, sodass sie sich am rettenden Esstisch festhalten, dann hastig auf einem Küchenstuhl Platz nehmen musste. Trotz des Dröhnens im Kopf versuchte sie verzweifelt, Klarheit darin zu schaffen.
Ruhig, Manuela, ganz ruhig! Denk nach!
Wie sie es geübt hatte, atmete sie wiederholt konzentriert ein und aus, bis tatsächlich etwas Ruhe einkehrte. Erst jetzt überlegte sie weiter: Gestern war Donnerstag, ganz sicher!
Sie hatte gestern noch mit ihrem Chef besprochen, was heute – am Freitag! – an Geschäftsberichten und Vertragsvereinbarungen anstünde. Sie waren sich einig gewesen, dass es ein gemütlicher Wochenabschluss werden würde, ohne Stress und Überstunden. Verflucht, heute konnte nicht Samstag sein, niemals! Denn das würde ja bedeuten, dass ... Die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, fuhr sie sich mit den Händen durch die sorgfältig gestylte Frisur und über das Make-Up.
Der nächtliche Traum kam ihr in den Sinn. Der Traum, den sie schon so lange nicht mehr geträumt hatte und der nun keinerlei andere Rückschlüsse zuließ: Er hatte sie gefunden und ihr Zeitgefüge damit wieder einmal durcheinandergebracht.
Nicht nur ihr Zeitgefüge, gestand sie sich seufzend ein. Alles, einfach alles, was sie sich in den letzten vier Monaten so sorgsam erarbeitet hatte, war in diesem Augenblick hinfällig geworden. Dabei hatte sie gerade gestern Abend das gute Gefühl genossen, auf dem richtigen Wege zu sein, ihre Erinnerungen kontrollieren zu können, Tabuzonen zu umschiffen.
Alles für die Katz!
Nun gestattete sie ihren Gedanken freien Lauf, wusste sie doch, dass er gleich kommen würde, um sie zurückzuholen. Sie unterdrückte einen weiteren Seufzer, stellte sich stattdessen der Erinnerung:
... Nie hatte sie so gezittert, nein, geschlottert vor Angst und Entsetzen.
Aber warum eigentlich? Jetzt gab es doch gar keinen Grund mehr für Angst – Angst vor Schmerzen und Qual.
Er war tot. Lag da am Boden, mausetot! Erstochen mit dem Küchenmesser, das er gegen sie gerichtet hatte, mit dem er sie hatte niedermetzeln wollen, nach fünf Jahren Ehe!
Oh Gott, er ist tot!
Ihr Blick glitt von seiner blutüberströmten Gestalt zu ihren Händen. Mit einem gellenden Schrei ließ sie das Messer fallen, rannte ins Bad und erbrach sich dort auf dem schneeweißen Fliesenboden.
Duschen, kam es ihr in den Sinn, ich muss mich duschen.
Nichts sollte sie daran erinnern! Nichts durfte davon an ihr haften bleiben!
Sie stellte sich samt Kleider unter den siedend heißen Wasserstrahl, ohne die Zeit wahrzunehmen.
Die Zeit schien ausgelöscht. All die Jahre des Ehemartyriums. Die Erniedrigungen, zerstörten Träume, Blutergüsse samt gebrochenen Rippen. Alles getarnt unter langärmligen Shirts, hinter immerwährendem, aufgesetztem Lächeln und dem Bilderbuchpaar, das sie beide nach außen hin abgegeben hatten. Alles verging, verschwamm, und es wurde dunkel ...
Bumbum, bumbum – Er kommt dich holen!
Bumbum, bumbum – Schleicht sich an auf leisen Sohlen.
Bumbum, bumbum – Er will dich beißen!
Bumbum, bumbum – Wird dich bald in Stücke reißen.
Bumbum, bumbum – Spür seinen Atem!
Bumbum, bumbum – Sollst in deinem Blute waten.
Sein Fell so warm! Sein Blick so kalt!
Er kommt dich holen, und zwar bald!
Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...
Nein! Hilf mir! ...
Als sie schweißgebadet hochschreckte, hielten sie zwei starke Arme. Eine angenehme dunkle Stimme redete sanft auf sie ein. Trotz der beruhigenden Worte zuckte sie heftig zusammen. Sie wusste nicht, was geschehen war, wo sie sich befand, wer da sprach. Außerdem konnte sie nichts sehen. Es war stockfinster.
»Psst, bleibe ganz ruhig. Dir passiert nichts. Du bist in Sicherheit. Alles wird gut.«
»Aber, er kommt, er ist da, er holt mich«, flüsterte sie völlig verwirrt, wusste sie doch nicht, wer da kommen sollte, sie zu holen. Nur das ständige Zittern war ihr vertraut.
»Du hattest einen bösen Traum, Manuela. Kein Wunder, nach all den schrecklichen Jahren. Jetzt kann er dir nichts mehr antun, glaube mir.«
Sosehr sie auch versuchte, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, die Finsternis blieb undurchdringlich. Dementgegen spürte sie deutlich seine feste glatte Haut. Sie lag in den Armen eines fremden Mannes, stellte sie fest, und zwar so, wie Gott sie erschaffen hatte – und er scheinbar auch.
Abrupt machte sie sich los, um sich aufzurichten. Er hinderte sie nicht daran.
»Wo bin ich? Was ist passiert?«
Alle Erinnerungen an Frederick, an ihren Ehemann, kehrten mit Übermacht zu ihr zurück. Wie er da in seinem roten Blut auf dem blendend weißen Boden der Dreißig-Quadratmeter-Küche lag, mit weit aufgerissenen, leblosen Augen. Die Übelkeit setzte wieder ein.
Das darf nicht wahr sein!
Erneut legte sich ein warmer muskulöser Arm behutsam um ihre Schulter. »Nicht, Manuela, tu dir das nicht an.«
Wonach riecht dieser Mann?, fragte sie sich, und warum dachte sie ausgerechnet jetzt darüber nach, wo es doch erheblich Dringenderes gab, worüber sie sich ihren Kopf zerbrechen sollte? Erde? Riecht er nach frischer Erde? Und da ist noch etwas: Rosen? Nein, es war kein schwerer süßer Duft. Sie erahnte zwar Blumen, aber nur einen Hauch von Blumensüße wie eine Sommerbrise. Ihr kam das Bild einer Wiese voller wildem Mohn und vereinzelten Kornblumen in den Sinn.
Wie kann ein Mann nach Erde und gleichzeitig so sauber und frisch nach einer Sommerwiese riechen?
Sie schüttelte sich, und endlich setzte ihr Verstand wieder ein. »Gibt es denn hier kein Licht?«
»Oh, natürlich, entschuldige.«
Manuela spürte einen Lufthauch. Im gleichen Moment loderten mehrere Fackeln auf, an den Wänden der – Höhle? Jedenfalls wirkte der Raum so, mit den aus Fels gehauenen Wänden, an denen in regelmäßigen Abständen