Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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nimmt, alles war überaus schwer und stockte lange nach. Grauauge erkannte erst jetzt, welche Verweichlichung in dem Wissen um eine Arbeit lag. Wie eine Seiltrommel ein Seil rollt sie das Leben gleichmäßig auf sich hinauf und richtet unerbittlich jedes herankommende Stück in die Linie ihres Zuges. Jetzt aber war er geistig ein Kridatar, ein Abgeworfener. Der jahrealte Glaube an seine Sendung war fort. Zufällig, in diesem Sommer, beim Lesen einer Zeitungsnachricht, war mit einemmal die Gewißheit emporgesprungen – listig hatte sie sich unterirdisch wohl schon längst angeschlichen gehabt es geht nicht, Du kannst es nicht.

      An der Sache schien ja alles unverändert. Seit den Tagen, wo der Wissenschaft große Erfolge zuzufallen begannen, hatten sich die Anstrengungen aller Lämmerlinge vervielfacht und heute ging die von ihnen aufgerührte Wolke von Ahnung, Verdächtigung des denkstarken Menschen, Anmaßung, Bedürfnis nach ungenauen Tröstungen, Seelenkuckucksheimen und allen Arten kostümierter Gefühle hoch über alle Köpfe. Die Phantasie war durch die Angst vor der Mathematik verdorben worden, eine Sache der Schwächlinge, und wo das Wissen aufhörte, fing heute die Oper an. Grauauge glaubte es wie in der ersten Stunde, wo seine Aufgabe vor ihm stand, einen Menschen mit vollständig umgeordneten Gefühlsvoraussetzungen zu begründen. Er hatte keinen Augenblick lang die Schwierigkeiten verkannt, aber wie ein Mensch, der weiß, daß er eines Tags mit einer fertigen Tat heraustreten wird, bereitete er sich auf sie vor; beweisen mußte er seinen zukünftigen Menschen, unwiderlegbar hatte er ihn machen wollen. Solche jahrelange Willenskraft war in ihm. Noch war es freilich nicht überall gediehen, dies oder jenes konnte man einwenden und allerdings war da überall auch schon ein Weg gewesen, ein Weg nämlich, neu – aber es ist ja gleich: es kam der Tag, wo ihm die Gewißheit einging, daß sein Vermögen doch nicht ausreiche, daß es ihm da und dort an Kleinigkeiten fehle, die er nie einbringen werde, gerade weil sie eigentlich in gar keinem innern Zusammenhang mit seiner Aufgabe standen, vielleicht an der Kraft alles zu lesen, an treuem Gedächtnis, an irgend etwas jener zufälligen persönlichen Zusammensetzung, die außer der Ideengewalt zu einem Menschen des großen Umsturzes nötig ist – und das Bewußtsein kam, diese Zeit wird gehen, über dich hinweggehen, alles wird auch ohne dich werden, was in deinem Hirn vereint war, wird sich irgendwann aus mehreren zusammenfinden und andere werden es tun.

      Mit diesem Augenblick begannen für ihn die moralischen Schwierigkeiten. Grauauges Wesen hatte sich in all der Zeit mit zweckmäßigster Anpassung seiner vermeintlichen Aufgabe untergeordnet gehabt und seine Eigenschaften blieben, seit dieses Lebendige aus ihnen herausgestorben war, sinnlos und löchrig schlecht aneinandergewachsen zurück. Die Eigenschaften aber, mit denen jeder Mensch für das gemeine zwecklose Leben ausgerüstet zu sein scheint, waren in ihm längst verkümmert. Er hatte keine Lust an Vergnügungen, keinen Stolz ein Charakter zu bleiben keine allgemeinen Interessen, jedes Geschick zu persönlicher Geltung und Freundschaft ging ihm ab, er erregte keine Sympathien und empfand keine. Ihm, der eine Schere war, die hindurchgehen hatte wollen, fehlte jedes der krausen Häkchen von Neigung und Abneigung, mit denen sonst die Natur die Menschen untereinander zu einem Gewebe verfilzt. Er fühlte, daß ihn nichts Wesentliches hinderte, zu stehlen, zu lügen oder sich dafür verachten zu lassen. Und wenn ihm auch dieses Bewußtsein allein nicht schon unangenehm war, litt er doch durch die Unbeschränktheit, die darin lag; denn vor Geschehnissen, wo jeder Mensch, der eine Theorie von sich besitzt, gewußt hätte, was sie verlangt, arbeitete er sich in einer Unordnung und Weite ab, die durch nichts vereinfacht wurde.

      Trotzdem mußte er ohne Zögern ein Mensch sein und sich in Reih und Glied ordnen. Er hatte oft in diesem feuchten, langen Herbst das Verlangen nach einer Geliebten; sie hätte es ihm erleichtert. Er überdachte manchmal die Frauen in der Pension. Aber wie konnte er, der selbst nichts war, nach einer Frau ausschauen? Nur die Bedürfnisse waren geblieben, die kräftige Verdauung, die Eßlust, die Geschlechtlichkeit; an seinem von innen klein gewordenen Körper hingen sie in den natürlichen Dimensionen des Mannes. Er schämte sich, wenn er sie befriedigen mußte. Und er litt unter der Vorstellung, das gar nicht verheimlichen zu können; er fühlte, daß alle Frauen es wußten, mit denen er täglich zusammenkam (wußten, daß er an sie dachte), sie verfolgten ihn deswegen. Ihn aber zog das zu ihnen, wie ein kleines Hündchen zu großen weiblichen Hunden. Seine Wesenlosigkeit wurde dadurch faßbarer und gewann wenigstens an einer Stelle den Anfang eines Umrisses. In seinem Unglück hob sich ein neuer Zusammenhang ab, dämmrig, unterwasserspiegelhaft; er war nicht zwischen diese Leute gesunken, sondern unter sie. Dieser Reiz war neu und heftig. Er erinnerte ihn plötzlich an den seiner ersten Lüge als Kind, mit einemmal war alles sonst Klare und Langweilige verhängt und sinnlich; und später an den seines ersten Gangs durch geduckte Gäßchen, zwischen Tag und Abend, Rauch stieg aus den Schornsteinen niedriger Häuser, eine Drehorgel spielte, Kinder wälzten sich auf dem übeldunstenden Pflaster, Soldaten handelten an den Türen; und in ihm öffnete sich eine große abenteuerliche Welt Die Sicherheit war in ihm, daß man hier irgend etwas Heimliches tun werde.

      Er kroch dem manchmal tastend nach und wurde gewahr, daß es an den Höhepunkt kam, wenn Toronto in der Nähe war. In der Pension oder ob sie hinter den Spiegelscheiben eines Kaffeehauses saßen und auf die Frauen paßten, die im Nebel, für einen Augenblick angeleuchtet, an dem Glas wie hinter den Wänden eines Aquariums vorbeiglitten. Toronto war zweiundzwanzig Jahre alt und nahm sie alle schon in der bloßen Möglichkeit für sich. Es war, obwohl es sich bloß um Gedanken handelte und auch wenn sie nicht einmal darüber sprachen, als ob Grauauge immer zu spät käme. Und trotzdem Toronto durchaus kein junger Mann der großen Welt war, sondern aus einer kleinen italienischen Provinzstadt stammte, erkannte Grauauge, daß er ein Recht darauf hatte. Die unaufhaltsame Männlichkeit des jungen Menschen schnitt ihn ab und strahlend betäubte er ihn mit selbstverständlichen Gefühlen wie die blödsinnige Trauer eines Begräbnisses, wie das Blechgeklingel einer heiligen Handlung in der lächerlichen Zurichtung einer Landkirche, ihn mit einer gemeinen Halbtrunkenheit ansteckend, durch die er wie mit zwei Köpfen – beobachtend und erleidend – dahinkroch. Er, der früher viele und gewagte Beziehungen zu Frauen gehabt hatte, fühlte sich in diesen einfachen entmannt und sinnlich erregt nur durch maßlose Zuhältergefühle für diesen fremden jungen Mann, in dessen Welt er sich einzunisten trachtete, nachdem er seine eigene verloren hatte.

      Vielleicht hätte er ja zurückkönnen. Es wurde ihm, wo immer sie waren, manchmal schwarz vor den Augen, wenn er daran dachte; aber er biß die Zähne zusammen und bückte sich nieder. Wenn er dann nachhause ging, war er beklommen, als käme er aus lasterhafter Gesellschaft Und daß es ihm, auch nachdem er sich geistig aufgegeben hatte, nicht anders gelang, als auf eine intellektuelle Weise dumm und auf eine zusammengesetzte einfach zu sein, gab ihm ein seltsam höhnisches Gefühl von sich und seinem Leben. Er ging mit eiskalten Füßen und brennenden Ohren, der Geruch und Lärm auf der Straße sog ihn an wie weiches Fließpapier einen Tropfen, es war nichts von ihm geblieben, kein Freund, kein Werk, kein Erfolg, in der Stille der gegeneinander brüllenden Kräfte fühlte er sich geheimnisvoll und unwahrscheinlich verschwinden. Aber vor einzelnen ihn kreuzenden Menschen, Wagen, einem Pfeiler – festen Dingen mit einer Lebensaufgabe – erschrack er immer von neuem, zurückgerufen und voll schlechten Gewissens. Und wenn er zuhause angekommen war, stellte er sich ans Fenster und sah weiter auf die Straße.

      Wartete auf die Dienstmädchen, die in ihren Kattunkleidern rasch noch querüber durch den Regen etwas besorgen liefen, und hatte nichts anderes, worauf er warten konnte. Zuweilen – so allein mit seiner Taschenuhr und dem leisen Knarren seiner Schuhe, wenn sich der Druck seines Körpers ein wenig anders verteilte – fiel ihm mit einemmal ein, daß man ihn von unten sehen werde und daß seine ewig gleiche, reglose Erscheinung hinter den dunklen Fensterscheiben Mißtrauen erregen könnte. Aber das Zimmer hinter ihm war wie eine vollständige Leere. Er wußte, riß er sich vom Fenster los und ging an den Tisch und machte Licht, so stand er gegenüber dem Nichts. Und so oft er glaubte, daß unten ein Kopf sich hob, erschrack er, obgleich es rings um ihn dunkel war, von neuem und fühlte sich selbst vor diesen gesunden Mägden unterworfen und ihren Freunden, den Kaufmannsgesellen, Schlächtern und jungen Briefträgern. Dann dachte er, um sich die Zeit zu vertreiben, an Toronto, sehnte sich nach seiner Unternehmungskraft und malte sich Abenteuer aus.

      Er zitterte, als er einmal plötzlich auf dem Flur Torontos Stimme hörte, wie vor einem märchenhaft erwarteten

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