Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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als er (der Productive)

      Der Doktor macht ein ärgerliches Gesicht, sieht dann auf den Toten und wird von freundlicheren Gedanken erfüllt.

      P. A. und die Tänzerin

[Um 1908]

      Eine Dame in der vierten Reihe konnte das Ende eines Privatgesprächs nicht finden. Ein junger Herr hinter ihr neigte sich ungeduldig vor und zurück, der Abwechslung wegen dann auch von links nach rechts. Aber die Tänzerin, die aus den Büchern des «P. A.» vorlas, hatte schon zwölfmal das Wort edel ausgesprochen und achtmal das Wort exzeptionell, als die Dame noch etwas Wichtiges zu sagen wußte und erst dann verstummte. Danach war einen Augenblick Stille; dann stieg langsam wieder eine Unaufmerksamkeit an die Oberfläche. Selbst jener junge Herr, der mit dem liebenswürdigsten Gesicht zugehört hatte, wurde ärgerlich. Vorlesen kann sie nicht, dachte er. Dann: Sie ehrt Peter Altenberg mit einem feierlichen Hochdeutsch wie ein Dienstmädel, das ein nobles Verhältnis hat. Wie ein Dienstmädel? –: wie ein bescheidenes, gütiges Dienstmädchen, würde P. A. sagen. Na ja.

      Dann jedoch tanzte sie. Und gewiß gab sie auch da nicht eine Kritik der reinen Vernunft mit den Beinen und nicht die Fußnoten von Diels zu den fragmentis veterorum stoicorum und ihre Schenkel waren nicht Klärbottiche dunkelster Seelengewißheiten wie die der Duncan. Sie tanzte vielmehr Variété; sie hatte prächtige Gewänder, liebliche Bewegungen und schöne Beine. Ihre Beine kamen manchmal aus den Gewändern hervor wie Artisten hinter dem Vorhang am Ende des Zeltes. Herzklopfen. Ein verschollener Geruch. Gelöste Haare, grüner Samt, Goldborten. Am stärksten aber doch der Geruch, der Geruch. Wenn man die Truhe mit den Winterkleidern Mamas und der Schwestern öffnete, stieg er auch dort, zugleich mit der Dunkelheit, die die Augen blendete, auf. Fortlaufen mußte man, sich hineinlegen, etwas rauben, ein kleiner Stallpage sein wollen oder wie ein brüllender Gorilla mit schlenkernden Armen auf diesen Geruch losgehn, der unwirklich zurückwich. Dann erst unterschied man die bekannten gutmütigen Rüschen und Röcke, Schweißblätter und Rauchwerk.

      Hier bekamen die Gedanken des Herrn eine philosophische Ausbauchung. Sehnsucht? Wie war es? Ich habe mich manchmal nach einem Glas Wasser gesehnt, wenn ich mich aber am tiefsten nach einer Geliebten sehnte, wollte ich keine wirkliche. Ich sah nicht plötzlich ein neues Ziel, ich sah überhaupt kein Ziel, aber ich wurde von einer stärkeren, herrlicheren, fremden Art der Erwartung durchströmt wie ein leeres leuchtendes Zimmer und man glaubt, es muß etwas eintreten. Man fühlt eine Wunderbarkeit des Empfangens, zu der es nichts Wirkliches gibt, das man empfangen könnte …. Die Tänzerin lockte seine Erinnerungen wie leises heißes Lampensummen langsam in seinen Gliedern empor. Die mit dem Geruch und dem Herzklopfen stammte von einem Zirkus in der Stadt Steyr in Oberösterreich. Er war damals ein kleiner Bub und konnte nicht begreifen, daß solche Wandermenschen ein gewöhnliches Familienleben führen; und wenn die Honoratioren der Stadt manchmal auf der Straße den Gruß der Direktorsleute erwiderten und sogar mit ihnen stehen blieben, freute er sich über ihr Unverständnis. Er aber hatte inzwischen das Unvorstellbare angebohrt; hinten in die Bretterverschalung des Zirkus schnitt er heimlich ein Loch und erst als es dann in den Stall statt in die Garderobe sehen ließ, versagte sein Mut und er traute sich nicht ein zweites zu machen. Jedoch spürte er nun eine Höhle im Stadtwald auf und dort saß er wirklich, dachte an die wunderschöne Blanche, die währenddessen unten in der Stadt mit gelösten Haaren, in grünem Samt auf ihrem Schimmel für den Abend ihre Sprünge probte, und hielt finster ein Rehkrickel in der Tasche bereit für alles, was kommen konnte.

      Die nächste Erinnerung jedoch war schon aus einem Restaurant in einer mittelgroßen Stadt, das Kasino hieß. Es gehörte zum Variété, hatte kleine Räume, die in weiß und gold gehalten waren, mit roten Teppichen. Habitués, Gewohnte, speisten dort zu Abend, still, freundlich, bald fortgehend. Aber daß sie bis zuletzt ruhig und ritterlich blieben und noch an der Schwelle Zeit zu einem liebenswürdigen Lächeln für ihre Begleiterin fanden, war für ihn das, was ihn allwöchentlich in dieses kleine Kasino führte, wo er sein ganzes Taschengeld für ein gut aussehendes Souper ausgab, das er allein verzehrte. Wie macht man das? Ich möchte dich: Sängerin, Tänzerin, Reifenspringerin … Du weißt schon wie und wozu. Aber höre, ich will dir nur ja keine Liebeserklärung machen, ich will mir gar nichts vergeben; ich weiß ja, wie ihr seid; haben will ich dich,.. mit der geringsten Indirektheit, denn du bist wunderschön, dunkel … Aber glaub nur nicht, daß ich nicht weiß, wie du zu haben bist: man zahlt ein Souper, verspricht einen Schmuck und sagt: allons; – allons sagt man und du weißt schon. – Und nur so wird deine Schönheit für einen überlegen Genießenden zu dem herrlichen Abgrund, der sie ist. Aber wie kann man liebenswürdig lächeln, ohne plötzlich vor Verliebtheit zu weihen und dich zu bitten, daß du trotz allem nur ja gut … gut bleiben sollst?

      Doch verstand ihn keine. Sie saßen zusammen, sprachen von Agenten und Engagementsorten oder lasen die Anzeigen in den Fachblättern. «Ein Obermann, der gut Salto drehen kann, wird gesucht,» «eine Mittelstimme kann eintreten bei 12 sisters ….» Es ist ein Gewerbe, ein ehrliches Gewerbe. Und wenn man schon hie und da eine Einladung annimmt, warum soll man wirklich nicht auch einmal vergnügt sein? Daß man aber auf der Bühne allabendlich eine Unanständigkeit zu sagen oder zu tun hat? .., ja was haben sie dagegen? .., was denken sie nur? .., die Leute fliegen darauf wie auf Zucker! Männchen, tadelte einmal eine, was willst du bloß …?!

      Hier schweiften die Gedanken des jungen Herrn abermals ab. Solange die Wittwe nicht mitverbrannt wird, bleiben es graduelle Unterschiede. Ob man allabendlich, oder in drei, fünf, fünfzehn Jahren Lebensgefährtin eines neuen Manns ist? Oder auch nur zu denken vermag, es könnte schön sein? Und wir? Wenn Kamilla A. stirbt oder uns verrät, bekommen wir vor Seelenschmerz eine Bauchfellentzündung, und wenn Kamilla B. kommt, besitzen wir die schamlose Vergeßlichkeit, von neuem und tatsächlich wieder rein und unberührt zu sein. [Bei Kamilla M. kommen wir endlich darauf, markieren nur mehr die Mystik des Erlebnisses, lassen uns von da ab die Nägel rosa färben, die Haare am Leib römisch schneiden und pudern uns in den Achselhöhlen, – aus einem unbestimmten Gefühl von falschem Weg und nicht mehr Umkehrenkönnen heraus.]

      Als nun die Tänzerin wieder etwas vorlas, wurde sehr lebhaft, was der junge Herr vor einiger Zeit über den Menschen P. A. zu denken begonnen hatte, ohne es zuendezuführen. Es fiel ihm ein: P. A. war ein großer Dichter. Zu sprechen ist aber von einem Phänomen, das sich an diesem langsam zurückbleibenden Dichter mit wachsender Deutlichkeit zeigt: in dem Maße als er uns entschwindet, unnuanciert, bilderbogenhaft wird, in dem Maße schließt sich sein Umriß und gewinnt einen hellen Saum wie Menschen vor einem Abendhimmel. Wenn wir uns umwenden, sehen wir ihn so auf einer uns fernen Hügelkette auf und ab gehn, immer das gleiche Stück hin und wieder zurück, mit einer fast unverständlichen Unermüdlichkeit, aber mit jenem hellen, hellen Saum gezeichnet. Seine Höhen heißen die Hügel der Güte und liegen uns immerhin neunzehnhundertundacht Jahre näher als die letzten des gleichen Namens. Er verläßt sie niemals mehr und betreibt dort eine kleine Apotheke: Tamar-Grillon um einen linden, beschwingenden Stuhl zu erzeugen, Absud vom Lebensbaum für kleine Mädchen, die in Verlegenheit geraten sind, Blumen für Melancholiker, kleine, primitive Stundengläser für allzu Lustige; er heilt die Seele mit hundert Kniebeugen und den Körper durch Zuspruch; er nennt das Lebensenergien wecken. Am größten ist er, wenn er ausgelacht wird. Wenn ein Mädel zu ihm sagt: «Sei lieb, Peter, der Baron will heut nacht zu der Paula kommen, leg dich für das einemal ins Dienstbotenzimmer», dann geht Peter wie der weise, gütige Elefant, wie der ernste, nachdenkliche Tapier zu der wunderschönen, edlen Magd und legt sich ins Gesindebett. «Wenn es dir nur genützt hat,» sagt er am nächsten Mittag zu Paula. Sagt aber eine: «Fahr ab, Peter! ein Waschlappen bist und kein Mann!» – so rafft er still seine Weichteile zusammen, erhebt noch einmal den Blick und geht. Geht und stolpert bald wieder über sein Seelengekröse, schleift es, hört ein Gelächter, faßt es mit einer geduldigen Bewegung wieder an sich und schreitet weiter. Schreitet erhaben, traurig und lächerlich, legendenhaft und mit einem Gesicht ganz ähnlich dem unsrigen, … ein Christus mit einem Hornkneifer.

      Dies fiel dem jungen Herrn über den merkwürdigen und geliebten Menschen P. A. ein, wie er durch die Schriften des Dichters P. A. geht. Warum?

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