Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten. A. F. Morland
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Gegen neun wurde die rote Karin von einem bärtigen Mann mit dem Auto abgeholt, der mit ihr in die Feuerstraße fuhr und dort in die Einfahrt neben Kuno Traube, An- und Verkauf lenkte. Etwa zwanzig Minuten später erschien ein eher schmächtiger Mann mit auffallend vielen und großen Sommersprossen, die in puncto Farbenpracht kaum zu überbieten waren. Sie erinnerten Lene an die feuerroten Haare der Karin Lochner, und deswegen hielt sie den Mann für Karins Bruder Uwe, der mit Peko mal zusammen in einer Zelle gelegen hatte. Uwe ging ohne Zögern durch die Einfahrt auf den Hof des Traubeschen Trödelladens. Lene wagte nicht, auszusteigen und einen Blick auf den Hof zu werfen, wo – nach den Geräuschen zu urteilen – Kisten und Kästen, Säcke und Beutel in einen Lieferwagen geladen wurden.
Ihre Vorsicht zahlte sich aus, fünf Minuten später rollte ein dunkelroter Kastenwagen auf die Feuerstraße. Er gehörte, wie die Aufschrift verriet, Kuno Traube, An- und Verkauf. Lene gab über Handy an die Kollegin König durch, wem und welchem Auto sie gerade folgte. Dann begann sie leicht zu fluchen. Der Bärtige am Steuer schlug tatsächlich die Richtung zur Dauerbaustelle Kolzemer Brücke ein, bog dann – noch schlimmer – in letzter Minute zur Fähre ab, die nach dem Feuer unter der Brücke wieder eingerichtet worden war. Ursprünglich mal ein Geheimtipp für Ortskundige, war die nun als Ausweichstrecke über den Fluss genauso überlastet wie die Brücke, die im Richtungswechselbetrieb nur einspurig benutzt werden durfte. Lene hatte einmal in einem klugen Geschichtsbuch gelesen, Flüsse trennten nicht, sondern verbänden, aber da existierten auch noch keine Spannbetonbrücken, die ein brennender Produktentanker von unten regelrecht ausgeglüht hatte, bis Einsturzgefahr bestand.
Lene wartete direkt hinter Traubes Lieferwagen, wo sie in der langen Schlange nicht auffiel. Lene gehörte zu dem nächsten Pulk, der auf die Fähre durfte. Traube wurde nach vorne rechts gewinkt, sie musste auf der linken Seite bleiben, aber An- und Verkauf war groß genug, um ihn später wieder zu finden. Natürlich ging’s nicht gleich los, ein großer Schubverband hatte Vorfahrt. Zum Autofahren brauchte man immer mehr Geduld. Lene gab an das Büro durch, wozu das Schicksal sie verurteilt hatte, und Ellen König lachte herzlos und schadenfroh.
Seit dem Tankerunfall unter der Kolzemer Brücke kam Lene selten auf die linke Flussseite und kannte sich hier so gut wie gar nicht aus. Der Bärtige steuerte unverdrossen Richtung Westen, verschmähte Autobahnzubringer und mehrspurig ausgebaute Bundesstraßen. Die Landschaft war schön, es ließ sich gut fahren, weil die Sonne noch hinter dem Wagen stand und nicht blendete. Lene begann zu träumen und hätte um ein Haar verpasst, dass der An- und Verkauf nach links blinkte. Der Ort hieß Zöllingen, und der Bärtige durchquerte schnurstracks die Siedlung, bis er an einem Schild abbog „Zöllingen-Fischbach“ und nach rechts steuerte. Weil er merklich langsamer wurde, ließ sich Lene weiter zurückfallen und stand gedeckt durch mehrere Büsche, als zwei Männer und eine Frau den Transporter verließen und in ein halb verfallenes Haus gingen. Über der Tür verkündete ein verrostetes Schild „Huf- und Kunstschmied Adalbert Lochner“. Der niedrige Bau aus Feldsteinen war rußverschmiert und sichtlich baufällig.
Ellen König fragte ungläubig: „Wo bist du?“
„Ich stehe vor einer verlassenen Huf- und Kunstschmiede Adalbert Lochner in Zöllingen-Fischbach. Erkundige dich doch mal bitte bei den Kollegen, wem der Schuppen heute gehört und wer jetzt da drin wohnt. Ich warte auf deinen Rückruf.“
Minuten später begannen die drei auszuladen und alles Mögliche in die Schmiede zu tragen. Der Sommersprossige ging einmal um das Haus herum und öffnete wohl ein Wehr, Wasser begann zu rauschen. Ellen König rief zurück; Gebäude und Grundstück und Wasserrechte gehören den drei Kindern Uwe, Martin und Karin des verstorbenen Adalbert Lochner. Zurzeit wohnt dort niemand – „ach, weißt du, das alte Lied, einsturzgefährdet, aber unter Denkmalschutz; wenn du mal zu viel Geld hast, lass dir so was vererben.“
„Mein Bruder hat mal in einem alten Tattersall produziert.“
„Dann weißt du ja, wovon ich rede, hier ruft übrigens alle Naselang ein Ulrich Scheuren für dich an. Sympathische Stimme. Was Neues, Lene?“
„Vielleicht, ja.“
„Bis morgen dann.“
Nach einer Viertelstunde schienen Traube und seine Begleiter alles in das Haus getragen zu haben. Zu dritt ging sie mit einem großen Picknickkorb um die alte Schmiede herum und blieben dort längere Zeit. Als Letztes hatten sie eine offenkundig schwere Holzkiste mit zwei Tragegriffen an den Schmalseiten in die alten Schmiede geschleppt. Lene wollte eben in den Garten der Schmiede blicken, als hinter ihr ein Auto bremste. Mit viel Mühe konnte sie im Rückspiegel das Kennzeichen entziffern. LU-PK 333.
Als der Mann ausstieg, rief Ellen König schon zurück.
„Ein Leihwagen aus Ludwigshafen. Gestern gemietet von einem Otto Gräber.“
„Ein echter Name?“
„Glaube ich nicht.“
„Otto“ ging ohne Zögern um das Haus herum in den Garten, und nach wenigen Minuten kamen sie zu viert nach vorn und gingen in die Schmiede. Sie schienen sich zu kennen. Lene hatte alle vier knipsen können, als sie durch einen hell beleuchteten Streifen zum Eingang schlenderten. Dann passierte lange Zeit nichts – bis zu einem dumpfen Knall, den Lene für einen Schuss im Haus hielt. Sie sprang aus dem Auto und sauste zur Haustür. Ein zweiter Knall; von ihrer neuen Position war auch zu hören, dass mehrere Menschen lautstark miteinander stritten. Anschließend schrie eine Frau auf, dumpfe Schritte polterten eine metallische Leiter oder Treppe hoch. Lene bückte sich nach einer Latte, die neben der Haustür lag, und hob sie auf. Als jemand seinen Kopf ins Freie steckte, schlug sie mit aller Kraft zu. Der überrumpelte Bartträger ging zu Boden und wehrte sich nicht, als sie ihm Handschellen anlegte. Bevor sie sich ins Haus traute, holte Lene ihre Waffe plus Reservemagazin und das zweite Paar Handgelenkschmuck aus dem Auto. Im Hause hatte der Streit aufgehört, stattdessen schienen zwei Menschen laut zu stöhnen. Sie wusste genau, dass es purer Leichtsinn war, allein in das düstere Gebäude zu gehen. Aber sie gab dem inneren Druck nach. Der Boden der alten Schmiede war mit Gerümpel übersät. Nur an der linken Wand führte ein freier Pfad zu einem Treppenschacht, der jetzt geöffnet war. Die merkwürdigen Stöhngeräusche kamen von unten aus dem Keller. Dort brannte auch eine schwache Birne und verbreitete ein trübes Licht. Zwei Männer und eine Frau lagen am Boden. Die Männer waren ernsthafter verwundet, nach ihrem Stöhnen zu schließen, die Frau schien zu schlafen. Lene fesselte Karin Lochner und schleifte sie in einen Nebenraum, der mit Kisten und Kästen vollgestellt war. An der Tür stolperte sie fast über eine verschlossene Holzkiste mit zwei Tragegriffen, die sie kaum bewegen konnte, weil sie mit Blei gefüllt schien. Blei oder Gold? Hier unten konnte sie nichts nachsehen. Es brach ihr fast das Kreuz, das schwere Stück an die unterste Stufe der Treppenleiter zu ziehen. Ächzend und begleitet von dem Stöhnen zweier Männer schaffte sie es irgendwie, die Kiste Stufe für Stufe anzuheben, abzusetzen und nach einer Verschnaufpause die nächst höhere Stufe zu erreichen. Bis zum Auto konnte sie das schwere Stück noch schleifen, vor der Aufgabe, es in den Kofferraum zu hieven, kapitulierte sie und rief den Kollegen Timo Bürger an:
„Ich bin in Zöllingen-Fischbach an der alten Schmiede Lochner. Sie können die Beute aus der LHB-Filiale Bühler Markt abholen, müssen aber die Formalitäten mit Staatsanwaltschaft und örtlicher Polizei vorher selbst erledigen. Ich kann Ihnen nicht helfen, man hat versucht, mir das Rückgrat zu brechen, vor meinen Augen dreht sich alles.“
Erst danach alarmierte sie über 110 die Kollegen und schon nach Minuten herrschte an der Schmiede ein Betrieb, wie bestimmt nie zuvor. Lene suchte sich unter den Sanitätern einen wahren Hünen aus, der die