Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner
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„Bei allen Göttern, was ist denn passiert?“
„Sie werden Anation umbringen! Heute Abend noch! Wir müssen los! Er hat gesagt, sie soll den Moorgeistern übergeben werden. Uns bleibt keine Zeit mehr!“
Rowilan brauchte einen Herzschlag, um zu begreifen und zu reagieren, was Aigonn fast den Verstand zu kosten schien. Wie konnte er noch zögern? Jeder Augenblick des Wartens war für immer verloren, ein wertvoller Funke Zeit, der ihm hinterher fehlen konnte. Sie werden Anation umbringen. Er würde sie für immer verlieren!
Da Rowilan noch immer die Fassung nicht recht wiedergefunden hatte, packte Aigonn den Schamanen kurz entschlossen am Arm und zog ihn im Laufschritt hinter sich her, den Pferden entgegen. Ungeachtet aller Späher, die noch im Wald auf sie lauern konnten, trat Aigonn jeden Strauch nieder, der ihm im Weg stand und für den seine Kräfte genügten. Unterdessen fragte er den noch immer perplexen Rowilan: „An welchem Moor führen die Eichenleute ihre Rituale aus?“
„Das Rote Moor. Es ist das Moor, in dem wir gelagert haben. Wenn du dich an den Weg erinnerst, könntest du bis zum Nachmittag dort sein.“
„Gut.“ Mehr wollte Aigonn nicht hören. Sobald die Pferde in Sicht kamen, riss Aigonn mit einem Griff den Strick los und setzte bereits an, sich auf den Rücken seines Reittieres zu schwingen, als Rowilan letztendlich seine Fassung zurückgewann.
„Aigonn, warte!“
Wider Willen wurde Aigonn zurück zu Boden gezogen. Seine Wut schien zu explodieren. Mit mehr Gewalt, als es gut tat, schüttelte er die Hand des Schamanen ab, bevor er abermals versuchte, aufzusitzen. Rowilan jedoch vereitelte auch diesen Versuch, diesmal deutlich hartnäckiger. „AIGONN, BEI DEN GÖTTERN, BESINNE DICH!“
„LASS MICH GEHEN, VERDAMMT!“ Er versuchte, sich dem Griff des Schamanen zu entziehen, dieser aber hielt nun seinen Oberkörper fest, sodass Aigonn beinahe stolperte, hätte Rowilan ihn nicht aufgefangen. „ZUERST WIRST DU ZUHÖREN! Verdammter Hitzkopf! Was willst du tun? Mit den Pferden zum Roten Moor reiten, in die Reihen der Feinde preschen und die Jungfrau retten, wie es nur alte Sagenhelden tun? Ist das dein Plan?“
Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Am liebsten hätte er Rowilan von sich gestoßen. Er musste fort, weg von hier! Es blieb keine Zeit. Allmählich jedoch begann die leise Stimme seiner Vernunft wieder die Oberhand zu gewinnen. Widerwillig hielt er inne, um sich anzuhören, was Rowilan zu sagen hatte:
„Bitte warte ab! Ich weiß, dass … Anation dir etwas bedeutet und verstehe deine Panik. Aber du hilfst weder ihr noch dir selbst, wenn du allein in den sicheren Tod reitest! Oder glaubst du, Khomal rechnet nicht mit einem Angriff? Er hat erfahren, dass du entkommen bist! Ich glaube vielmehr, er wird auf dich warten. Vielleicht ist es eine Falle; dieser Mann ist gerissener, als wir beide glauben, fürchte ich!“
Aigonn hatte das Gefühl, sein Kopf würde zerplatzen. Eine Stimme in seinem Inneren murmelte, dass Rowilans Warnung vernünftig war, er besser warten sollte. Doch alles andere wehrte sich dagegen. Anation. Sie bedeutete ihm etwas? Er musste sich eingestehen, dass Rowilan nicht Unrecht hatte. Vielleicht traf seine Aussage die Wirklichkeit besser, als Aigonn es wahrhaben wollte. Doch in diesem Moment stand ihm nicht der Sinn danach, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen. Erzwungen ruhig hakte er deshalb nach: „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Du kannst nicht alleine reiten, das ist Irrsinn! Wir werden in der Siedlung nach verbliebenen Kriegern suchen, die uns begleiten können. Lass uns wenigsten warten, bis Aehrel zurück ist, wo auch immer er bleibt!“
„Gut.“ Vermutlich hatte er keine Wahl. Die Gewissheit, dass Anation in so unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, trieb Aigonn immer noch beinahe in den Wahnsinn. Er nahm sich jedoch so weit zusammen, dass er an Rowilans Seite zur Siedlung zurückkehrte und dort die Nachricht unter den Überlebenden verbreitete. Zu Aigonns Verdruss zeichneten sich die Männer durch Zurückhaltung aus. Es waren so wenige verblieben, dass niemand für eine waghalsige Befreiung sein Leben und die Sicherheit der spärlich geschützten Siedlung opfern wollte – erst recht nicht, wenn es sich nur um eine einzige Person handelte, die sie alle seit Tagen mit Furcht und Unbehagen beobachtet hatten. Rowilan hatte Mühe, Aigonn zu besänftigen. Seine Geduld wurde auf die Zerreißprobe gestellt. Als der Morgen schließlich zum Vormittag wurde und sich nicht einmal Aehrel blicken ließ, erschöpfte sie sich schließlich. Aigonn sprang von dem Hocker im Haus seines Onkels, wo sie auf diesen gewartet hatten, packte sein Schwert und die Scheide und verkündete: „Es reicht! Komm mit mir oder bleib hier, Rowilan. Mir soll es gleich sein. Ich weiß nur, dass ich nicht noch länger warten werde!“
„Aigonn …“ Der Schamane fühlte, dass nun jegliche Widerworte zwecklos wären. Entschlossen trat Aigonn in den sonnigen Vormittag hinaus, suchte das Pferd, das ihn schon auf der Flucht vor den Eichenkriegern hierher getragen hatte, und legte ihm Zaumzeug an. Als das Tier fertig zur Abreise war, fragte er noch einmal Rowilan, der sein Treiben schweigend beobachtet hatte: „Kommst du mit?“
„Ich lasse dich nicht im Stich, das verspreche ich dir! Aber ich werde noch warten. Vertrau mir, auch du kommst nicht zu spät, wenn du uns ein wenig länger Zeit gibst!“
„Nein. Jetzt nicht mehr. Ich kann nicht mehr warten, es bringt nichts.“ Mit diesen Worten saß Aigonn auf. Das kleine, stämmige Pferd war gerade groß genug, dass seine Beine einen knappen Fuß breit über dem Boden endeten, sodass Rowilan ihm noch eine Hand auf die Schulter legen konnte. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder!“
Der Nachhall dieses Moments beängstigte Aigonn. Es hatte plötzlich alles etwas Endgültiges an sich, der Tod seiner Mutter, Anations Hinrichtung. Fast schien es, als strebe das Rad seines Lebens den letzten Höhepunkt an, bevor es seinen Lauf vollendete, er, Aigonn, selbst den Weg in die Andere Welt finden würde, um irgendwann wiederzukehren. Eine so nicht gekannte Wehmut erfüllte ihn mit einem Mal. Für einen Augenblick wurde ihm seine eigene Starrsinnigkeit so schmerzlich bewusst, dass er sich von Rowilan abwandte und das Pferd antrieb.
Wie oft hatte er diesen Mann und sein Tun verteufelt? Aigonn hatte niemals hinsehen wollen, in diesen Situationen, die ihm die Wahrheit hätten vorhalten können. Nun war es zu spät, vielleicht. Die vielen Chancen, die er in seinem Leben ungenutzt hatte verstreichen lassen, bildeten einen Kloß in seinem Hals, den er nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Als sein Pferd an den Wachen vorbei aus der Siedlung hinaustrabte, sah Aigonn nicht mehr zurück. Es hatte keinen Sinn mehr für ihn.
Vielleicht, Rowilan, werden wir in einem anderen Leben Freunde.
Das Ritual
Als die Siedlung hinter einer Flut aus Bäumen verschwunden war, atmete Aigonn zum ersten Mal auf. Die Auen der Rur lagen zu seiner Rechten, sommergrün und in ihrer Unberührtheit von einer ursprünglichen Kraft durchzogen, die Aigonn ehrfürchtig werden ließ. Es tat gut, seine alte Heimat aus den Augen zu wissen. Er hatte sich längst mit dem Gedanken abgefunden, dass sich die Umstände geändert hatten. Alles in ihm strebte danach, Anation zu retten. Doch was würde danach kommen? Aigonn würde nicht mehr zurückkehren, diese Gewissheit war binnen der vergangenen Nacht unterschwellig in ihm gereift und hatte nun von ihm Besitz ergriffen, sodass er keinen anderen Ausweg mehr sah.
Er würde Efoh nicht seinem Schicksal überlassen, nicht seinen Bruder, auch Rowilan nicht. Doch etwas in seinem Innersten sagte Aigonn, dass sein Platz, seine Heimat, nicht mehr in diesem großen Dorf an den Auen der Rur sein würde, vielleicht nie gewesen war. Die Gewissheit erfüllte ihn mit Wehmut, verlieh ihm jedoch im selben Zug die ungeheure Leichtigkeit, die nur der Gedanke an eine offene Zukunft bringen konnte,