Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint

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Kafkas letzter Prozess - Benjamin Balint

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Julie Wohryzek kennen, mit der er sich kurz darauf verlobte. Julie war die einfache Tochter eines verarmten Schusters und Synagogendieners. In einem Brief an Brod bezeichnete Kafka sie als »Besitzerin einer unerschöpflichen und unaufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke«. (Weder ihre Herkunft noch ihr Jiddisch sagten Kafkas Vater zu, der sie als déclassé ablehnte.) Julie, deren erster Verlobter, ein junger Zionist, in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gefallen war, hatte Brods Vorträge über den Zionismus besucht. Kurz nachdem Kafka Julie kennengelernt hatte, bat er Brod, ihr seinen Aufsatz »Die dritte Phase des Zionismus« aus dem Jahr 1917 zuzuschicken.26

      Dank Brod war Kafka, schon bevor er Felice kennenlernte, zumindest flüchtig mit zionistischen Kreisen in Berührung gekommen. Im Jahr 1910 besuchte er mit Brod zum ersten Mal Zusammenkünfte und Vorträge im Studentenverein Bar Kochba. Anders als Theodor Herzl interessierte man sich bei Bar Kochba mehr für eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur als für die politische Verwirklichung eines jüdischen Staates. Die Mitglieder verstanden den Zionismus nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für eine geistige Erneuerung. Darauf bezieht sich Kafka im August 1916, als er auf einer Postkarte an Felice vermerkt: »Der Zionismus, wenigstens in einem äußern Zipfel, den meisten lebenden Juden erreichbar, ist nur der Eingang zu dem Wichtigern.«27

      Kafkas Auseinandersetzung mit dem Thema hatte jedoch schon Jahre zuvor mit seinem Freund Hugo Bergmann begonnen, der 1899 sechzehnjährig dem Bar-Kochba-Verein beigetreten und mit achtzehn zu dessen Vorsitzendem gewählt worden war. Im Jahr 1902 brachte der neunzehnjährige Kafka sein Befremden über das Engagement seines Freundes für den Zionismus zum Ausdruck. Bergmann erwiderte:

      In deinem Brief fehlt natürlich wieder nicht der obligate Spott über meinen Zionismus. Fast sollte ich schon aufhören, mich darüber zu wundern. Und doch immer und immer wieder muß ich mich darüber wundern, warum Du, der Du, wenn nicht mehr, doch solange mein Schulkamerad warst, meinen Zionismus nicht verstehst. Wenn ich einen Irren vor mir sähe, und er hätte eine fixe Idee, ich würde nicht lachen über ihn, denn ihm ist seine Idee ein Stück Leben. Mein Zionismus ist für dich auch nur eine »fixe Idee« von mir. [A]llein wie Du zu stehen, dazu hatte ich die Kraft nicht.28

      Bergmann siedelte 1920 nach Palästina über, wo er die Leitung der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem übernahm. Unter seiner Ägide wurde aus der Institution laut Brod »die größte und reichhaltigste, modernste Bibliothek des Mittelostens«. Später wurde Bergmann Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem. Kafka verfolgte seine Karriere mit großem Interesse. Als Bergmann 1923 nach Prag zurückkehrte, um im zionistischen Club Keren Hajessod einen Vortrag zu halten, sagte Kafka, wie Brod später berichtete, nach der Veranstaltung zu Bergmann: »Diesen Vortrag hast du nur für mich gehalten.«29

      Wir können davon ausgehen, dass Bergmann Kafka von den Ursprüngen der Jerusalemer Bibliothek erzählte. Im Jahr 1872 hatte ein gewisser Rabbi Joshua Heschel Lewin aus Waloschyn in der ersten hebräischen Wochenzeitung Jerusalems Ha-Chawazelet gefordert, »eine Bibliothek zu gründen, die ein Zentrum werden soll und in der die Bücher unseres Volkes gesammelt werden – nicht eines darf fehlen«. Mit Unterstützung des britischen Mäzens und Philanthropen Sir Moses Montefiore wurden Spenden gesammelt und Vorstandsmitglieder verpflichtet, unter ihnen Elieser Ben-Jehuda, Vater der modernen hebräischen Sprache. Im Jahr 1905 kam die Bibliothek unter die Schirmherrschaft des Zionistischen Kongresses in Basel. Doch die Zeit war noch nicht reif: Eine Nationalbibliothek braucht per definitionem eine Nation mit einem Land und einer Sprache.

      Im Studentenverein Bar Kochba hörte Kafka im Januar 1912 auch einen Vortrag Nathan Birnbaums über jiddische Volkslieder; der Wiener Schriftsteller, damals 47 Jahre alt, hatte den Begriff »Zionismus« zwanzig Jahre zuvor geprägt. Kafka lauschte »Birnbaums Vortrag mit größter Spannung«, so Reiner Stach.30 Unter den Zionisten, deren Vorträge er beim Bar-Kochba-Verein besuchte, waren Felix Salten (der später das Kinderbuch Bambi verfasste), der Generalsekretär des zionistischen Weltverbandes Kurt Blumenfeld und der einflussreiche Kulturzionist Davis Trietsch, Mitbegründer des Jüdischen Verlags und Herausgeber der Zeitschrift Palästina, der über jüdische Kolonien im Land referierte.

      Im September 1913 befand sich Kafka unter den rund zehntausend Besuchern des elften Zionistischen Weltkongresses in Wien, an dem auch sein späterer Verleger Salman Schocken und der erste Ministerpräsident des späteren Staates Israel David Ben-Gurion teilnahmen. (Anlass für die Wien-Reise war allerdings Kafkas Arbeit gewesen, nämlich der zweite Internationale Kongress für Rettungswesen und Unfallverhütung). Auf dem Zionistenkongress hörte er Reden von Nahum Sokolow, Menachem Ussischkin, Arthur Ruppin und anderen einflussreichen Zionisten. Die Delegierten erlebten zudem die Premiere eines 78 Minuten langen Stummfilms des Regisseurs Noah Sokolowsky, der Panoramaansichten der neuen Stadt Tel Aviv, die Wahrzeichen von Jerusalem und die jüdischen Agrarsiedlungen in Judäa, am Karmel und in Galiläa zeigte.31

      Der Trubel ließ Kafka kalt. »Im Zionistischen Kongreß bin ich wie bei einer gänzlich fremden Veranstaltung dagesessen, allerdings war ich durch manches beengt und zerstreut gewesen«, bemerkte er in einem Brief an Brod. »[E]twas Nutzloseres als ein solcher Kongreß lässt sich schwer ausdenken«. Und in seinem Tagebuch mokierte er sich über »Palästinafahrer«, die »immerfort die Makkabäer im Munde haben und ihnen nachgeraten wollen«.32

      Inmitten der gegensätzlichen kulturellen Strömungen Prags war Kafka wie Brod und seine zionistischen Freunde ständig auf der Hut vor dem allgegenwärtigen Antisemitismus. Sie alle wussten nur zu gut, dass Juden von den Tschechen als Deutsche und von den Deutschen als Juden betrachtet wurden. »Was hatten sie denn getan«, so Theodor Herzl schon 1897, »die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute des Mittelstandes, die Friedlichen aller friedlichen Bürger? […] Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch.«33

      Brod und Kafka lasen die hasserfüllten judenfeindlichen Artikel in der tschechischen Zeitung Venkov und waren mit den alltäglichen Beleidigungen gegenüber Juden nur allzu vertraut. Als Kafka einmal im Salon Emilie Marschners zu Gast war, der Ehefrau seines Vorgesetzten, bemerkte eine der Damen abschätzig: »Da haben Sie ja auch einen Herrn Juden eingeladen.«34

      Die beiden Prager Schriftsteller unterschieden sich in Temperament und Schicksal, teilten aber die lästige Erfahrung, einer jüdischen Minderheit innerhalb einer deutschsprachigen Minderheit innerhalb einer tschechischen Minderheit innerhalb eines heterogenen österreichisch-ungarischen Kaiserreichs anzugehören, an dem bereits die Zentrifugalkräfte rivalisierender Nationalismen zerrten. Beide bekamen den wachsenden völkischen Antisemitismus, der mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie einherging, am eigenen Leib zu spüren.

      Ende 1897 erlebten Kafka und Brod im Alter von vierzehn Jahren den sogenannten Dezembersturm. Drei Tage lang verwüsteten marodierende Banden Synagogen, plünderten jüdische Geschäfte und überfielen Juden in ihren Häusern. »Auch in meinem Elternhaus splitterten nachts die Scheiben«, schrieb Brod später, »bebend flüchteten wir aus dem gassenwärts gelegenen Kinderzimmer ins Schlafzimmer der Eltern. Ich sehe noch, wie mein Vater die kleine Schwester aus dem Bett hebt – und am Morgen lag wirklich im Bett ein großer Pflasterstein.«35

      Zwei Jahre später, 1899, verfolgte Kafka in der Presse den Fall Leopold Hilsners, eines jungen Juden aus einer böhmischen Kleinstadt, dem der Ritualmord an einem tschechischen Mädchen katholischen Glaubens vorgeworfen wurde. Er las den Augenzeugenbericht seines Freundes Abraham Grünberg von einem Pogrom im Jahr 1906. Und er las in der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr Berichte über die Beilis-Affäre in Kiew und schrieb, so berichtet Brod, auch eine Erzählung über den berühmt-berüchtigten Blutmordprozess (Kafkas letzte Geliebte Dora Diamant verbrannte den Text auf sein Geheiß). Er war ergriffen von Arnold Zweigs Theaterstück Ritualmord in Ungarn (1914) über die Blutanklage, die als Affäre von Tiszaeszlár bekannt

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