Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint

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Kafkas letzter Prozess - Benjamin Balint

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für die Durchführung dieser Forschungen und einen wissenschaftlich angemessenen Umgang mit diesen Primärquellen im Allgemeinen und mit Kafka und Brod im Besonderen infrage stellen.« Der New York Times sagte Kulka 2010: »Es heißt, die Papiere seien in Deutschland sicherer. Die Deutschen würden sich gut darum kümmern. Die Deutschen haben sich aber im Lauf der Geschichte nicht sonderlich gut um Kafkas Sachen gekümmert. Sie haben sich nicht gut um seine Schwestern gekümmert [die im Holocaust umkamen].«16

      Im Februar 2010 verfasste Kulka mit zwei Dutzend renommierten israelischen Wissenschaftlern einen offenen Brief auf Hebräisch, der auch auf Deutsch erschien (einem nicht ganz perfekten und etwas altmodischen Deutsch): »Wir, die Unterzeichneten, israelische Akademiker und Forscher die sich mit der deutsch-judischen Geschichte befassen, sind entsetzt über die Art wie die israelische Akademia in der deutschen Presse dargestellt wird, als ob wir weder Interesse, noch das historische Wissen und sprachliches Können hätten, um das Max Brod Archiv zu erforschen. Max Brod ist ein Teil der Geschichte des Staates Israel, ein Schriftsteller und Philosoph, der unzahlige Artikel über den Zionismus geschrieben hat und der sich, nach seiner Flucht vor den Nazis aus Prag, in Israel (damals Palaestina) niederliess und hier uber dreissig Jahre bis zu seinem Tod lebte.«17

      Nurit Pagi, die an der Universität Haifa über Brod promovierte, war die treibende Kraft hinter dem offenen Brief. Der Zeitung Ha’aretz sagte Pagi: »Brods breit gefächertes Werk hat unter anderem deshalb nicht die verdiente Anerkennung erhalten, weil sein Archiv – das 20.000 Seiten umfasst – seit seinem Tod 1968 Wissenschaftlern nicht zugänglich war, obwohl er darum gebeten hatte, dass es an die Nationalbibliothek gehen solle. Nun besteht die einzigartige Chance, diese Ungerechtigkeit, die ihm seit vielen Jahren widerfährt, zu korrigieren und Forschern aus Israel und anderen Ländern die Möglichkeit zu geben, neues Licht auf sein Werk und sein Erbe zu werfen.«

      Pagi erzählte mir, ihre Mutter und Eva Hoffe hätten in dem Jugenddorf Ben Schemen zusammen die Schule besucht, das 1927 gegründete landwirtschaftliche Internat. Pagi stieß in den 1960er Jahren in einer öffentlichen Bücherei in Haifa zum ersten Mal auf Brods Romane und erkannte mit wachsender Faszination, dass Brod parallel zu seiner Hinwendung zum Zionismus literarisch einen realistischeren Stil und Wortschatz entwickelt hatte. Für sie war Brod der Beweis für eine allgemeinere Weisheit: »Der Zionismus wurde auf Deutsch verfasst.« Pagi bezog sich auf die tiefe Verwurzelung der zionistischen Bewegung in der deutschsprachigen Kultur, angefangen mit den Schriften des Wiener Journalisten Theodor Herzl, den ersten Zionistenkongressen in Basel und zionistischen Zeitungen wie der Jüdischen Rundschau von Robert Weltsch, einem Cousin Felix Weltschs.

      Vor einigen Jahren erfuhr Pagi, dass der Sohn einer der bedeutendsten israelischen Dichterinnen zögerte, den literarischen Nachlass seiner Mutter in Israel zu belassen, weil »wir hier keine Zukunft haben«, wie er sagte. »Der Verbleib des Brod-Archivs in Israel könnte beweisen, dass wir an unsere Existenz und unsere Zukunft hier im Land glauben«, so Pagi. »Dass wir wissen, die zionistische Bewegung hat sich noch lange nicht verwirklicht und dem Erbe des mitteleuropäischen Judentums fällt bei dieser Verwirklichung eine wichtige Aufgabe zu. In der Tat, auch der Kampf um den Verbleib des Archivs von Max Brod in Israel ist einer der wichtigen Kämpfe, die wir für unsere Zukunft in unserem Land austragen.«18 Andreas Kilcher aus Zürich, renommierter Experte für Kafka und deutsch-jüdische Literatur, zitierte Pagis Worte als ein Beispiel für den »kulturkämpferischen Gestus« und die »bellikose Rhetorik« rund um den Prozess.19

      Die Wortwahl der Wissenschaftler auf beiden Seiten – »Ressentiments«, »ungeheuerliche Behauptungen«, »kulturkämpferisch« – spiegelt jedenfalls deutlich den Streit von Deutschen und Israelis um das gemeinsame literarische Erbe wider.

      Bei der nächsten Sitzung des Familiengerichts von Tel Aviv, kurz nach Margot Cohns Kreuzverhör, machte auch Eva Hoffe ihre Aussage. Nach dem »Hinterhalt« beim ersten Gerichtstermin hatten sich ihre Schwester Ruth und sie zunächst an Arnan Gabrieli gewandt, einen der angesehensten Anwälte für Urheberrecht in Israel. Gabrieli hatte ihre Mutter Ester vertreten und auch die Verhandlungen für den umstrittenen Verkauf der Sammlung des Jerusalemer Dichters Jehuda Amichai an die Yale University geführt. Doch Eva Hoffe zufolge belästigte ihre Schwester Gabrieli dermaßen – unter anderem rief sie wiederholt bei ihm zu Hause an –, dass er den Fall ablehnte. Stattdessen engagierten die Schwestern die Anwälte Uri Zfat und Jeschajahu Etgar. (Zfat hatte 1975 im Alter von 24 Jahren als Jurastudent an der Bar-Ilan-Universität Büroarbeiten für Richter Schilo erledigt.)

      Von Anfang an stellten die beiden Anwälte die Position der Nationalbibliothek als Versuch dar, Privateigentum zu verstaatlichen. Das Urteil von Richter Schilo aus dem Jahr 1974, mit dem der Vorstoß des Staates, sich die Kafka-Manuskripte anzueignen, abgewehrt wurde, solle Bestand haben, argumentierten sie und riefen Richterin Kopelman Pardo in Erinnerung, dass Schilo im damaligen Verfahren, anders als im gegenwärtigen, Ester Hoffes Aussage selbst hatte hören können. »Die Ansprüche der Bibliothek waren bereits Gegenstand eines Verfahrens […] und wurden in einer Weise entschieden, die für eine erneute Verhandlung keinen Raum lässt.«

      Ohnehin dürfe man die Kafka-Papiere nicht als Teil von Brods Nachlass betrachten, so Uri Zfat. Da Brod in seinem Testament Kafkas Papiere nicht gesondert erwähnt habe, sei er sich durchaus bewusst gewesen, dass sie nicht mehr zu seinem Nachlass gehörten; er hatte sie Ester Hoffe ja bereits geschenkt. Und schließlich habe die Nationalbibliothek in den Jahren, in denen sie mit Ester Hoffe über die Kafka-Schriften verhandelt habe, nie auch nur angedeutet, dass sie sich selbst als rechtmäßige Erbin verstanden hätte.

      Schmulik Cassouto, Ester Hoffes Nachlassverwalter, fügte hinzu, der Vorstoß des Staates, die Manuskripte an sich zu reißen, komme »offener Bevormundung« gleich und sei »eines demokratischen Staates, als der sich Israel präsentiert, unwürdig«. Cassouto fuhr fort: »Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob Brod seinen Nachlass der Person hinterlassen hat, die dafür am besten ›geeignet‹ war. Auch steht es uns nicht zu, in Zweifel zu ziehen, was ihm am meisten am Herzen lag. Der Staat mag Recht haben mit der Behauptung, dass es für Brod besser gewesen wäre, wenn er Frau Hoffe nicht so nahe gestanden hätte, oder dass er seinen ›Schatz‹ besser einem passenderen Erben vermacht hätte – und einen passenderen Erben als den Staat Israel gibt es nicht. Aber Brod hat Frau Hoffe eben nahegestanden. Für ihn war sie die einzige verbleibende Familie, und ihr wollte er alles geben, was er besaß. Dieser Wille muss respektiert werden.«

      Da Brod die Kafka-Manuskripte zu Lebzeiten als Schenkung an Ester Hoffe gegeben habe, so Cassouto, seien diese Manuskripte de facto und de jure nicht Teil des Brod-Nachlasses und somit nicht Gegenstand der Testamentsauslegung. Was Brods eigenen Nachlass angehe, habe er Ester Hoffe testamentarisch eindeutig das Recht übertragen, zu entscheiden, wo sie ihn hingebe und unter welchen Bedingungen. Wenn die Nationalbibliothek Anstand beweisen wolle, fuhr er fort, würde sie mit Eva Hoffe über den Erwerb der Manuskripte verhandeln, statt sie dermaßen unter Druck zu setzen. Dass die Nationalbibliothek die Manuskripte erhalten könnte, ohne Eva Hoffe dafür zu entschädigen, bezeichnete er als »absurd«.

      Abgesehen von solchen juristischen Feinheiten waren die Sitzungen vor dem Familiengericht von Tel Aviv jedoch von allgemeineren Überlegungen darüber beherrscht, wo Kafkas und Brods Erbe nun eigentlich hingehöre. »Wie bei vielen anderen Juden, die ihren Beitrag zur westlichen Zivilisation geleistet haben«, sagte Meir Heller über Kafka, »sollten sein Erbe [und] seine Manuskripte unserer Ansicht nach hier im jüdischen Staat verbleiben.« Auch Ehud Sol (von der angesehenen israelischen Anwaltskanzlei Herzog, Fox und Neeman), gerichtlich bestellter Verwalter des Brod-Nachlasses, argumentierte, das Gericht müsse, wenn es zwischen Marbach und der Nationalbibliothek entscheide, auch Kafkas und Brods Haltung »zur jüdischen Welt und zum Land Israel« berücksichtigen, ebenso wie Brods Haltung zu Deutschland nach der Schoah. Die Frage, wie wichtig Brod und Kafka das jüdische Volk und seine politischen Ziele waren, sollte sich für den Prozess – und für die Urteile der Richter – als entscheidend erweisen.

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