Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2. Augustinus von Hippo
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Was aber die abweichenden Zahlenangaben im hebräischen Text gegenüber dem unseren betrifft, so herrscht ja doch Übereinstimmung hinsichtlich der hier in Rede stehenden Langlebigkeit der Altväter, und wenn sich eine Abweichung zeigt von der Art, daß beide Lesearten zugleich nicht recht haben können, so hat man den wirklichen Verlauf der Begebenheiten aus dem Urtext zu erheben, aus dem das, was wir haben, übersetzt ist. Diese Möglichkeit bietet sich überall denen, die darauf ausgehen, und doch hat bisher niemand die 70 Übersetzer in den sehr zahlreichen Fällen, wo sie augenscheinlich Abweichendes sagen, aus dem hebräischen Text zu verbessern gewagt. Das hat seinen guten Grund. Man hat diese Unstimmigkeit eben nicht für Fehlerhaftigkeit erachtet; und auch ich bin der Ansicht, daß sie dafür durchaus nicht zu halten sei; vielmehr ist, soweit es sich nicht um Schreibfehler handelt, anzunehmen, daß die 70 Übersetzer etwas in anderer Weise ausdrücken wollten unter dem Einfluß des göttlichen Geistes, nach freier Prophetenart, nicht in ihrer Eigenschaft als Übersetzer, so daß dabei ein mit der Wahrheit übereinstimmender und die Wahrheit verkündender Sinn herauskam[232] . Mit Recht bedienten sich daher die für uns maßgebenden Apostel, wenn sie Zeugnisse aus der Schrift beibringen, nicht nur des hebräischen, sondern auch des Septuagintatextes. Doch darüber werde ich, wie ich in Aussicht gestellt habe[233] , an geeigneterer Stelle handeln, so Gott will; jetzt soll das erledigt werden, was uns hier beschäftigt. Kein Zweifel also, um wieder zurückzukommen auf das, wovon ich ausgegangen bin, der erste Mensch, der aus dem ersten Menschen hervorging, konnte bereits eine Stadt gründen bei der Langlebigkeit der damaligen Menschen, freilich nur eine irdisch gesinnte, nicht die, die Gottesstaat heißt, über die zu schreiben wir dieses große und mühsame Werk auf uns genommen haben.
15. Ob sich wohl die Menschen des ersten Weltalters bis zu den Lebensjahren, da von ihnen Kindererzeugung berichtet wird, der geschlechtlichen Vereinigung enthalten haben?
Nun wird man etwa fragen: „Soll man also glauben, daß ein Mensch, der Kinder zu erzeugen fähig war und sich nicht Enthaltsamkeit vorgenommen hatte, 100 und mehr Jahre oder, nach den Zahlenangaben des hebräischen Textes, nicht viel weniger, 80, 70, 60 Jahre den Beischlaf überhaupt nicht ausgeübt oder, wenn er ihn ausübte, keine Nachkommenschaft zu erzeugen vermocht habe?“ Diese Schwierigkeit läßt sich auf doppelte Art lösen. Entweder trat die Geschlechtsreife in demselben Verhältnis später ein, als das Gesamtleben länger währte, oder, was mich glaubhafter dünkt, es sind hier nicht die erstgeborenen Söhne erwähnt, sondern die[234] , deren Erwähnung durch die Abstammungsfolge gefordert wurde, wollte man auf Noe herabgelangen, von dem wir dann wieder die Abstammungsfolge auf Abraham herabgeführt sehen, und dann weiterhin bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, soweit es notwendig war, um auch durch Erwähnung der Geschlechtsfolgen den Verlauf des glorreichen, auf dieser Welt pilgernden und das himmlische Vaterland suchenden Staates zu kennzeichnen. Als erster von allen ging aus der Vereinigung von Mann und Weib Kain hervor; das läßt sich nicht in Zweifel ziehen. Denn Adam hätte nach seiner Geburt sonst nicht gesagt[235] : „Ich habe einen Menschen gewonnen durch Gott“, wenn Kain nicht der erste Mensch gewesen wäre, der sich zu beiden durch die Geburt hinzugesellte. Ihm folgte Abel, den der ältere Bruder erschlug, und er zuerst führt eine Art Vorbild des pilgernden Gottesstaates vor Augen, insofern dieser von Gottlosen und sozusagen Erdgeborenen, d. h. von solchen, die ihren irdischen Ursprung lieben und deren Freude das irdische Glück des Erdenstaates ist, ungerechte Verfolgung erleiden sollte. Wie alt jedoch Adam war, als er die beiden zeugte, ist nicht ersichtlich. Von da ab werden zwei Zeugungsreihen in ihrer Abstammungsfolge vorgeführt, die eine von Kain ausgehend, die andere von dem, welchen Adam zum Ersatz für den vom Bruder Erschlagenen zeugte und dessen Namen er Seth nannte, indem er sprach, wie geschrieben steht[236] : „Denn Gott hat mir einen andern Samen erweckt an Stelle Abels, den Kain erschlug“. Diese beiden Zeugungsreihen, die von Seth und die von Kain ausgehende, deuten durch ihre Sonderung die beiden Staaten an, von denen wir handeln, den himmlischen, der auf Erden in der Fremde ist, und den Weltstaat, der den irdischen Freuden, als wären sie die einzigen, nachjagt und anhängt. Daher ist bei der Nachkommenschaft Kains, obwohl sie mit Einschluß Adams bis zur achten Geschlechtsfolge aufgezählt wird, nirgends ausdrücklich angegeben, wie alt die einzelnen gewesen seien, als sie den erzeugten, der nach ihnen erwähnt wird. Es widerstrebte eben dem Geiste Gottes, bei den Zeugungen im Weltstaat vor der Sündflut Zeiten anzumerken, aber bei denen im himmlischen Staate tat er es gern, um anzudeuten, daß die Zeugungen denkwürdiger seien. Bei Seths Geburt also werden zwar die Jahre seines Vaters nicht verschwiegen, aber dieser hatte schon andere gezeugt, und wer möchte bestimmt behaupten, ob nur Kain und Abel? Denn wenn auch diese zwei allein genannt werden, so ist daraus doch nicht zu folgern, daß sie die einzigen waren, die bis dahin aus Adam hervorgegangen waren; sie werden eben genannt im Zusammenhang mit der Reihenfolge der zu erwähnenden Zeugungen. Es heißt ja von Adam[237] , daß er Söhne und Töchter gezeugt habe, und keines von diesen Kindern ist mit Namen aufgeführt; niemand kann also, ohne sich auf das Gebiet der gewagten, ja kecken Behauptungen zu begeben, bestimmt sagen, das wievielte Kind Adams Seth gewesen ist. Adam konnte ja von oben eine Andeutung erhalten haben, als er die Geburt Seths mit den Worten begrüßte: „Denn Gott hat mir einen andern Samen erweckt an Stelle Abels“, und diese Worte wären dann auf Seths Heiligkeit zu beziehen, die bestimmt war, an Stelle der Abels zu treten, und drückten nicht aus, daß Seth der Zeit nach als der erste nach Abel geboren worden wäre. Wenn es dann weiter heißt[238] : „Seth aber lebte 205 Jahre [oder nach der hebräischen Überlieferung: 105 Jahre] und zeugte den Enos“, so kann doch nur Unbesonnenheit diesen Enos ohne weiters als Seths Erstgeborenen bezeichnen und uns die verwunderte Frage auf die Lippen drängen, wie denn so viele Jahre hindurch Seth unverheiratet geblieben ohne allen Vorsatz der Enthaltsamkeit oder seine Ehe ohne Kinder geblieben sei, zumal da es doch auch von ihm heißt: „Und er zeugte Söhne und Töchter, und es waren alle Tage Seths 912 Jahre, da starb er“. Und so wird auch weiterhin von allen, deren Lebensjahre angegeben werden, ausdrücklich bemerkt, daß sie Söhne und Töchter zeugten. Und demnach läßt sich überhaupt nicht ersehen, ob der, dessen Zeugung jeweils erwähnt wird, gerade der Erstgeborene sei; im Gegenteil: weil es unwahrscheinlich ist, daß die Urväter so lange Jahre hindurch entweder noch nicht geschlechtsreif oder ohne Gattin oder ohne Nachkommenschaft gewesen wären, so ist es auch unwahrscheinlich, daß die jeweils angeführten Söhne ihre Erstgeborenen gewesen wären. Vielmehr hat der Verfasser der heiligen Geschichte, da er beabsichtigte, an der Hand der Zeugungsfolgen unter Angabe der Zeitverläufe zu der Geburt und dem Leben Noes zu gelangen, in dessen Lebenszeit die Sündflut fällt, nur eben jene Zeugungen erwähnt, welche in die Reihenfolge der Abstammung einschlagen, nicht jene, welche für die Eltern die ersten gewesen.
Um allen Zweifel zu beseitigen, daß es sich wirklich so verhalten haben kann, will ich ein Beispiel einschalten, das eine solche Absicht und ihre Einwirkung auf Zeugungsberichte deutlicher machen kann. Wo der Evangelist Matthäus die Abstammung des Herrn dem Fleische nach an der Reihenfolge der Vorfahren dem Gedächtnis der Nachwelt überliefern will, beginnt er mit Abraham und sagt, in der Absicht, zunächst auf David zu gelangen[239] : „Abraham zeugte den Isaak“; warum sagt er nicht: den Ismael, den doch Abraham zuerst zeugte? „Isaak aber“, fährt er fort, „zeugte den Jakob“; warum sagt er nicht: den Esau, der doch Isaaks Erstgeborener war? Eben weil er über diese beiden nicht zu David hätte gelangen können, Darauf folgt: „Jakob aber zeugte den Judas und dessen Brüder“; war Judas etwa Jakobs Erstgeborener? „Judas zeugte den Phares und Zarat“; auch von diesen Zwillingen war keiner des Judas Erstgeborener, vielmehr hatte er vor ihnen bereits drei Söhne gezeugt. Der Evangelist hielt sich also in der Reihenfolge der Zeugungen lediglich an die, über welche er zu David und von da an sein weiteres Ziel gelangen konnte. Daraus ist zu ersehen, daß auch unter den Urmenschen vor der Sündflut nicht die Erstgeborenen, sondern jeweils die erwähnt wurden, über welche die Reihenfolge der Zeugungen ununterbrochen bis auf den Patriarchen