Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 1. Augustinus von Hippo
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„welche den Tod sich
Schuldlos gaben mit eigener Hand und, müde des Lebens,
Von sich warfen den Geist“;
und wenn sie zur Oberwelt zurückzukehren verlangt, so
„Steht ihr entgegen das Göttergesetz, und des widrigen Sumpfes
Düster Gewässer hält sie gebannt“.
Oder ist sie vielleicht deshalb nicht in der Oberwelt, weil sie nicht frei von Schuld, sondern mit schlechtem Gewissen Selbstmord verübt hat? Wie wenn sie[51] dem jungen Mann, der ja freilich gewalttätig über sie herfiel, auch durch eigene Lust gereizt zustimmte und sich darüber so heftige Vorwürfe machte, daß sie die Sünde durch den Tod sühnen zu sollen vermeinte? Freilich auch dann hätte sie nicht Selbstmord zu üben gebraucht, wenn sie vor ihren falschen Göttern fruchtbare Buße hätte tun können. Jedoch wenn es etwa so ist und der Ausspruch: „Zwei waren es und nur einer beging den Ehebruch“ nicht zutrifft, sondern beide Ehebruch begangen haben, der eine durch offenbare Gewalt, die andere durch heimliche Zustimmung, so hat sie nicht an einer Schuldlosen Selbstmord verübt und ihre gelehrten Verteidiger können demnach behaupten, daß sie in der Unterwelt nicht beigereiht wurde denen, „welche den Tod sich schuldlos gaben“. Die ganze Sache spitzt sich eben darauf zu: Entschuldigt man den Mord, so bestätigt man den Ehebruch; leugnet man den Ehebruch, so belastet man umso mehr den Mord; man findet überhaupt keinen Ausweg aus dem Dilemma: „War sie ehebrecherisch, warum rühmt man sie? War sie keusch, warum tötete sie sich?“
Uns jedoch genügt zur Zurückweisung derer, die, der Vorstellung heiliger Gesinnung unfähig, die in der Gefangenschaft vergewaltigten christlichen Frauen verspotten, es genügt uns an dem berühmten Beispiel dieser Frau der Hinweis auf das, was man zu deren Ruhm und Verherrlichung sagt: „Zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen“. Man hat nämlich bei Lucretia gerne angenommen, daß sie sich nicht durch ehebrecherische Einwilligung habe beflecken können. Wenn sie also ob der Notzüchtigung, obgleich nicht Ehebrecherin, Selbstmord verübt hat, so tat sie das nicht aus Liebe zur Keuschheit, sondern aus schwächlicher Scham. Sie schämte sich fremder Schandtat, an ihr, nicht mit ihr begangen, und dieses römische Weib, nach Ruhm mehr als begierig, fürchtete, wenn sie am Leben bliebe, in der öffentlichen Meinung als eine Frau zu gelten, die gern über sich ergehen ließ, was sie gewaltsam über sich hatte ergehen lassen. Darum glaubte sie zum Zeugnis ihrer Gesinnung jene Strafe den Menschen vor Augen halten zu sollen, da sie ihnen ihr Gewissen nicht vorweisen konnte. Sie schämte sich, als Genossin der Tat zu gelten, wenn sie das, was ein anderer schändliches an ihr getan, geduldig ertragen würde. Nicht so handelten die christlichen Frauen, die ähnliches erduldeten und gleichwohl noch leben und nicht am eigenen Leib ein fremdes Verbrechen gerächt haben, damit sie nicht den Untaten anderer noch eigene hinzufügten, wenn sie deshalb, weil Feinde an ihnen aus Gier Notzucht verübt hatten, nun an sich aus Scham Selbstmord verüben würden. Sie haben eben innerlich den Ruhm der Keuschheit, das Zeugnis des Gewissens; sie haben ihn aber vor den Augen ihres Gottes und sie suchen da nichts, wo ihnen die Möglichkeit, recht zu handeln, benommen ist, damit sie nicht, um mit Unrecht dem Anstoß des Verdachtes in den Augen der Menschen auszuweichen, in den Augen Gottes von den Vorschriften seines Gesetzes abwichen.
20. Keine Schriftstelle gewährt den Christen das Recht des freiwilligen Todes, in welcher Lage immer sie sich finden.
Denn nicht umsonst kann man in den heiligen und kanonischen Büchern nirgends ein göttliches Gebot noch auch die Erlaubnis ausgesprochen finden, sich selbst das Leben zu nehmen, um das unsterbliche Leben zu erlangen oder irgend ein Übel zu meiden oder zu beseitigen. Vielmehr ist das Verbot hieher zu beziehen: „Du sollst nicht töten“[52] , wie es im Gesetze heißt; um so mehr als nicht hinzugefügt ist: „deinen Nächsten“ wie bei dem Verbot des falschen Zeugnisses: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten“[53] . Gleichwohl darf man nicht glauben, von dieser Sünde frei zu sein, wenn man gegen sich selbst falsches Zeugnis ablegte. Denn die Selbstliebe wurde als die Richtschnur für die Nächstenliebe aufgestellt, da ja geschrieben steht: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“[54] . Wenn sich demnach der, der über sich selbst Falsches aussagt, des falschen Zeugnisses nicht weniger schuldig macht als wer es wider den Nächsten tut, während doch in dem Gebote, welches das falsche Zeugnis betrifft, nur vom Nächsten die Rede ist, was dahin mißverstanden werden könnte, es sei nicht verboten, daß man wider sich selbst als falscher Zeuge auftritt, wieviel mehr gilt dies dann von dem Verbot des Selbstmordes, da klar zu Tage liegt, daß, wenn es ohne Zusatz heißt: „Du sollst nicht töten“, jedermann als Objekt des Verbotes bezeichnet ist, auch der also, an den das Gesetz gerichtet ist. Darum suchen manche[55] dieses Gesetz sogar auf Tiere, wilde und zahme, auszudehnen, so daß es uns danach nicht erlaubt wäre, sie zu töten. Warum dann nicht auch auf die Kräuter und was sonst mit der Wurzel im Erdboden Nahrung und Halt sucht? Denn auch diese Art von Wesen hat, wenn auch der Empfindung bar, ein Leben, wie man sich ausdrückt, und kann demnach auch sterben, somit auch bei Anwendung von Gewalt getötet werden. Daher sagt der Apostel, wo er von solchen Samen spricht: „Was du säest, lebt nicht auf, wenn es nicht zuvor stirbt“[56] , und im Psalm[57] heißt es: „Er tötete mit Hagel ihre Weinstöcke“. Werden wir also, wenn wir vernehmen: „Du sollst nicht töten“, es für Sünde halten, Strauchwerk auszureißen und, töricht genug, dem Irrtum der Manichäer beistimmen? Weg mit solchem Wahn! Wenn wir also das Verbot des Tötens nicht auf die Pflanzen beziehen, weil sie der Empfindung entbehren, und nicht auf die vernunftlosen Lebewesen, die fliegenden, schwimmenden, laufenden, kriechenden, weil sie uns nicht durch die Vernunft gleichgestellt sind, die mit uns gemeinsam zu haben ihnen nicht gewährt ist[58] , so bleibt nur übrig, das Verbot: „Du sollst nicht töten“ vom Menschen zu verstehen: Weder einen andern noch dich sollst du töten. Denn wer sich selbst tötet, tötet eben auch einen Menschen.
21. Fälle, in denen die Tötung von Menschen nicht das Verbrechen des Mordes in sich schließt.
Einige Ausnahmen jedoch von dem Verbot, einen Menschen zu töten, hat eben jener göttliche Wille selbst gemacht. Von denen aber abgesehen, die Gott zu töten befiehlt, sei es durch gesetzliche Anordnung, sei es jeweils mit Bezug auf eine bestimmte Person durch ausdrücklichen Befehl - in solchen Fällen tötet nicht der, der dem Befehlenden diesen Dienst schuldet wie ein Schwert dem, der es führt, Hilfe schuldet; daher haben jene, die auf Gottes Geheiß Kriege führten oder im Besitze der öffentlichen Gewalt gemäß den Gesetzen Gottes d. i. nach dem Befehl der allgerechten Vernunft Verbrecher mit dem Tode bestraften, nicht wider das Gebot: „Du sollst nicht töten“ gehandelt; und Abraham, weit entfernt, des Verbrechens der Grausamkeit beschuldigt zu werden, wurde vielmehr gerühmt ob seiner Frömmigkeit, weil er seinen Sohn rein nur aus Gehorsam, nicht in frevelhafter Absicht töten wollte[59] ; und mit Recht zweifelt man, ob es für einen Auftrag Gottes zu halten sei, daß Jephte seine Tochter, die ihm entgegeneilte, tötete, lediglich weil er gelobt hatte, das was ihm bei der siegreichen Rückkehr aus der Schlacht zuerst entgegenkommen würde, Gott zu opfern[60] und auch Samson, der sich selbst mitsamt den Feinden