Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 1. Augustinus von Hippo
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22. Kann der freiwillige Tod jemals als Zeichen von Seelengröße gelten?
Wer immer Selbstmord verübt, ist vielleicht wegen Seelengröße zu bewundern, nicht aber verdient er Lob wegen gesunden Sinnes. Obwohl bei genauer Überlegung nicht einmal von Seelengröße die Rede sein kann, wenn man, unfähig ein hartes Geschick oder fremde Sünden zu ertragen, sich selbst das Leben nimmt. Als schwach vielmehr zeigt sich ein Geist, der eine schwere Knechtung seines Leibes oder die törichte Meinung der Menge nicht zu ertragen vermag, und die größere Seele verdient die genannt zu werden, die ein mühseliges Leben, statt ihm aus dem Weg zu gehen, vielmehr zu ertragen und das Urteil der Menschen, vorab das der Menge, das zumeist in das Dunkel des Irrtums gehüllt ist, gegenüber dem Lichte des reinen Gewissens zu verachten weiß. Wenn daher je der Selbstmord auf Seelengröße zurückzuführen ist, so entdeckt man solche eher an Theobrotus, der sich nach der Lektüre von Platos Buch, das von der Unsterblichkeit der Seele handelt, von einer Mauer hinabgestürzt haben und so aus diesem Leben zu einem anderen, das er für das bessere hielt, hinübergewandert sein soll[62] . Ihn bedrängte kein Mißgeschick, kein Verbrechen, weder ein wirkliches noch ein eingebildetes, dem er, unfähig es zu ertragen, aus dem Weg gegangen wäre; lediglich Seelengröße bestimmte ihn, sich für den Tod zu entscheiden und die süßen Bande des irdischen Lebens zu zerreißen. Daß er damit freilich mehr groß als gut gehandelt hat, hätte ihm gerade Plato, den er las, bezeugen können; denn der hätte das doch vor allem selbst getan, ja es sogar vorgeschrieben, wenn er sich nicht die Überzeugung gebildet hätte, daß dies in dem Sinne, wie er die Unsterblichkeit der Seele ansah, durchaus nicht geschehen, vielmehr selbst verhindert werden soll.
Allerdings haben viele Selbstmord begangen, um nicht den Feinden in die Hände zu fallen. Aber an dieser Stelle handelt es sich nicht darum, ob das vorgekommen ist, sondern darum, ob es hätte vorkommen sollen. Eine gesunde Logik geht nämlich auch über Beispiele, und mit ihr stimmen hinwieder ebenfalls Beispiele überein und zwar solche, die umso nachahmungswürdiger sind, als sie mit hervorragender Frömmigkeit verbunden erscheinen. Solches taten nicht die Patriarchen, nicht die Propheten, nicht die Apostel; denn Christus der Herr selbst hätte sie, da er sie anwies, von Stadt zu Stadt zu fliehen, wenn sie Verfolgung erleiden würden, ebenso anweisen können, Hand an sich zu legen, um nicht ihren Verfolgern in die Hände zu fallen. Wenn also er den Seinigen keinen Befehl oder Rat erteilte, auf solche Weise aus dem Leben zu scheiden, da er ihnen doch nach ihrem Hingang ewige Wohnungen zu bereiten verhieß, so mögen die Heiden, die Gott nicht kennen, Beispiele anführen soviel sie wollen: es ist dennoch klar, daß solches den Verehrern des einen wahren Gottes nicht erlaubt ist.
23. Wie ist das Beispiel zu beurteilen, das Cato durch seinen Selbstmord ob des Sieges Cäsars gab?
Übrigens finden auch unsere Gegner außer der Lucretia, von der wir oben das Nötige gesagt haben, kaum jemand, nach dessen Vorgang sie den Selbstmord anraten könnten, als den berühmten Cato, der sich in Utica das Leben nahm; nicht als wäre er der einzige, der dies getan, sondern weil er für einen gebildeten und rechtschaffenen Mann galt; daher dürfe man, meinen sie, mit Grund annehmen, daß das, was er getan hat, erlaubterweise habe geschehen können und noch geschehen könne. Was soll ich über seine Tat weiter sagen, als daß seine Freunde, ebenfalls gebildete Männer, welche klüger dachten als er und ihm davon abrieten, die Tat eher für ein Zeichen des Schwachmutes als der Seelengröße hielten, da sich in ihr nicht ein der Schande vorbeugendes Ehrgefühl, sondern eine dem Unglück gegenüber widerstandslose Schwäche offenbare? Das war auch die Meinung Catos selbst, als es sich um seinen innig geliebten Sohn handelte. Denn war es schmachvoll, unter dem siegreichen Cäsar zu leben, warum veranlaßte er zu solcher Schmach seinen Sohn, den er anwies, alles von der Güte Cäsars zu erwarten? Warum drängte er ihn nicht, mit ihm in den Tod zu gehen? Denn wenn Torquatus darin löblich handelte, daß er seinen Sohn, der gegen den Befehl mit dem Feinde kämpfte, obwohl er dabei Sieger blieb, töten ließ[63] , warum hat der besiegte Cato, der gegen sich keine Schonung übte, Schonung walten lassen gegen seinen besiegten Sohn? Oder war es schmachvoller, dem Befehl zuwider Sieger zu sein, als der Ehre zuwider fremden Sieg zu ertragen? Also hat es Cato durchaus nicht für eine Schmach gehalten, unter dem siegreichen Cäsar zu leben, sonst hätte er mit dem eigenen Stahl seinen Sohn vor dieser Schmach bewahrt. Was anders also liegt hier vor, als daß Cato, wie er seinen Sohn liebte, für den er von Cäsar Schonung hoffte und wünschte, so dem Cäsar den Ruhm mißgönnte, auch seiner zu schonen [und Cäsar soll sich dahin geäußert haben“[64] ], oder, um mich milder auszudrücken, sich einer Begnadigung schämte.
24. In der Tugend, die den Regulus vor Cato auszeichnet, überragen noch weit mehr die Christen.
Unsere Gegner sind nicht damit einverstanden, daß wir den heiligen Mann Job, der lieber so entsetzliche Leiden erdulden als durch Selbstmord aller Pein überhoben sein wollte, oder andere Heilige auf Grund unserer durchaus glaubwürdigen und durch die erhabenste Autorität ausgezeichneten Schriften, solche nämlich, die lieber feindliche Gefangenschaft und Herrschaft über sich ergehen lassen, als freiwillig in den Tod gehen wollten, über ihren Cato stellen; aber auf Grund ihrer eigenen Schriften will ich den Nachweis führen, daß gerade eben Regulus über M. Cato zu stellen sei. Denn Cato hat Cäsar niemals besiegt; er hielt es nach seiner Niederlage unter seiner Würde, ihm unterworfen zu sein und entschied sich dafür, durch Selbstmord der Unterwerfung zuvorzukommen; Regulus dagegen hatte die Punier bereits besiegt und hatte als römischer Feldherr für die römische Herrschaft nicht einen beklagenswerten Sieg über Bürger, sondern über auswärtige Feinde einen rühmlichen Sieg davongetragen; nachmals jedoch von ihnen besiegt, wollte er lieber ihre Herrschaft auf sich nehmen, als sich ihnen durch den Tod entziehen. Demnach hat er sowohl unter der Herrschaft der Karthager Geduld als auch in seiner Liebe zu den Römern Standhaftigkeit bewahrt und weder den gebrochenen Leib seinen Feinden, noch die ungebrochene Gesinnung seinen Bürgern vorenthalten. Auch war es nicht Liebe zum irdischen Dasein, was ihn vom Selbstmord zurückhielt. Das hat er dadurch bewiesen, daß er mit Rücksicht auf Versprechen und Eid ohne jedes Bedenken zu den Feinden zurückkehrte, denen er doch eben im Senat mit Worten heftiger als im Krieg mit den Waffen zugesetzt hatte. Und so hat sich dieser großartige Verächter des irdischen Daseins, indem er sein Leben, weit entfernt, es sich selbst zu nehmen, wütenden Feinden zur Vernichtung unter beliebiger Marter darbot, ohne Zweifel zu der Überzeugung bekannt, daß der Selbstmord ein großes Verbrechen sei. Unter all ihren ruhmeswürdigen und durch ausgezeichnete Tugend berühmten Männern bringen die Römer keinen besseren auf; ihn hat das Glück nicht verdorben, denn trotz dem großen Siege blieb er ganz arm, noch hat ihn das Unglück gebrochen, denn in die schweren Todesqualen begab er sich unverzagt. Wenn also so tapfere und berühmte Männer, Verteidiger des irdischen Vaterlandes und Verehrer der Götter, zwar falscher Götter, aber doch nicht heuchlerische Verehrer, vielmehr ihrem Schwure treu bis in den Tod, wenn sie, die besiegte Feinde nach Krieges Brauch und Recht töten konnten, von ihren Feinden besiegt sich nicht töten wollten und, obwohl sie den Tod durchaus nicht fürchteten, lieber die Herrschaft der Sieger über sich ergehen ließen als freiwillig in den Tod gehen wollten, wie vielmehr werden sich die Christen, Verehrer des wahren Gottes, sehnsuchtsvoll dem überirdischen Vaterland zugewandt, von solchem Frevel enthalten, wenn Gottes Anordnung sie auf eine Zeit zur Prüfung oder Besserung ihren Feinden unterstellt, ohne daß doch in solcher Erniedrigung der sie verließe, der um ihretwillen sich in die Erniedrigung begab, er, der Höchste, umso weniger als keine Befugnis