Nebra. Thomas Thiemeyer

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Nebra - Thomas Thiemeyer Hannah Peters

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ist nichts Verwerfliches dran. Wir reden drüber und lachen, und es ist in Ordnung so.« Sie faltete ihre Hände zwischen den Knien. »Danke, dass du mir diesen Job besorgt hast. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.«

      »Wenn dir an dem Job so viel liegt, habe ich eine gute Nachricht für dich. Die Heimleitung hat sich bereit erklärt, die Probezeit in eine unbefristete Anstellung umzuwandeln.«

      »Was?« Cynthia hob die Augenbrauen. »Dazu müsste ich im Heim wohnen, und das ist, wie du weißt, unmöglich. Wenn ich nicht pünktlich um neunzehn Uhr hier wieder auf der Matte stehe, bekomme ich mächtigen Ärger.«

      »Das wird künftig anders sein«, sagte der Mann, und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er griff in die Tasche und förderte einen Stapel sehr amtlich aussehender Dokumente zutage. »Die Berufungsverhandlung war erfolgreich. Deinem Antrag auf vorzeitige Entlassung wegen guter Führung wurde stattgegeben. Am Montag kommst du hier raus. Auf Bewährung, versteht sich.«

      »Eine Berufung? Was für ein Antrag?«

      Sein Lächeln wurde breiter. »Habe ich dir nicht davon erzählt? Wie unachtsam von mir.« Er schüttelte den Kopf in gespielter Selbstzerknirschung. »Nein, im Ernst: Ich habe das für dich geregelt. Wäre es schiefgegangen, hättest du davon nichts erfahren. Aber wir hatten Glück. Sie haben dem Antrag stattgegeben. In vier Tagen bist du hier raus. Wie findest du das?«

      »Wie ich das finde …? Mein Gott.« Cynthia glaubte, ihr Herz würde aussetzen. Sie schlug die Hände vor den Mund. Sie würde rauskommen. Drei Jahre früher als erwartet.

      »Ich kann das nicht glauben. Seit wann weißt du es?«

      »Die Dokumente kamen Mittwoch mit dem Kurier. Da ich aber ab Montag unterwegs war und mich keiner aus der Kanzlei benachrichtigt hat, habe ich sie erst gestern Abend gelesen. Zu spät, um dich noch anzurufen. Aber ich dachte, es wäre ohnehin besser, dir diese Nachricht persönlich mitzuteilen.«

      Sie sprang auf und schlang erneut ihre Arme um ihn. Diesmal war er vorbereitet. Er erwiderte die Umarmung.

      »Danke.« Das war alles, was Cynthia in diesem Moment über die Lippen kam.

       [home]

      5

      Auf einem Felsplateau, hoch über den Wipfeln eines Fichtenwaldes gelegen, stand ein seltsamer Mann. An die zwei Meter groß und breit wie eine Eiche, wirkte er, als würde er den letzten Rest des Tageslichts förmlich aufsaugen. Mit der rechten Hand auf einen mannshohen Stab gestützt, links eine Keule haltend, die aus dem Oberschenkelknochen eines Bären geschnitzt war, verharrte er völlig regungslos am Rande eines Abgrunds und blickte in die Ferne. Eine Krone aus Wurzeln, aus der die Hörner eines Rehbocks ragten, zierte seinen Kopf. Seine Arme und Hände waren mit Streifen aus Leder und gewalkten Pflanzenfasern umwickelt. Das Haar war zu fettigen Strähnen verflochten und klebte an seinem Kopf. Sein Gesicht, das mit einer dicken Schicht aus Lehm und Asche bedeckt war, verlieh ihm das Aussehen eines wilden Tieres. Das einzig Menschliche an ihm waren seine Augen. Ein Hauch von Wehmut lag in ihnen, als er beobachtete, wie die Landschaft unter seinen Füßen in der Dunkelheit versank.

      Der Mann war ein Priester, ein heiliger Mann, ein Schamane. Ein Relikt aus einer Zeit, in der es in dieser Gegend noch Wölfe, Bären und Eulen gegeben hatte. Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche.

      Wie in den meisten Teilen der Welt hatte der Fortschritt auch in seinem Land Einzug gehalten, hatte die alten Werte und Traditionen verdrängt und durch Wissenschaft und Fortschritt ersetzt. Nur der Schamane war geblieben. Wie ein Fels in der Brandung stand er da und trotzte den Veränderungen der Welt.

      Im blassen Licht des Abends flammten nach und nach Lichtpunkte auf. Erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Land von einem Netz aus Helligkeit überzogen. Lichterketten zeigten an, wo sich eine Straße befand, leuchtende Haufen kündeten von einer Ortschaft. Kaum ein Fleck, der nicht besiedelt war. Es dauerte nicht lange, da war das ganze Land unter ihm ein Meer aus leuchtenden Punkten.

      Als abzusehen war, dass es nicht dunkler werden würde, wandte er sich um. Der Mond war als beinahe vollständige Scheibe über die Bergkuppe gestiegen, bereit, seinen Weg über das nächtliche Firmament anzutreten. Das Licht, das er spendete, genügte dem Schamanen, um den Weg zu finden. Er hätte ihn auch in vollkommener Dunkelheit nicht verfehlt, kannte er doch jeden Stein und jeden Grashalm dieses geweihten Landes. Ein kühler Wind kam auf und vertrieb die letzten Wolkenfetzen vom Haupt des heiligen Berges. Die ersten Sterne kamen zum Vorschein, flackernd und blinkend wie die Lagerfeuer der Götter. Eine Nacht, wie geschaffen für eine Anrufung.

      Der Schamane verließ den Pfad und wandte sich nach rechts. Nicht weit entfernt lag eine Höhle, dorthin wollte er gehen. Er musste jetzt vorsichtig sein, denn seine Schuhe aus Birkenrinde waren ungeeignet, um damit auf rutschigem Geröll zu gehen. Schon von weitem konnte er sehen, dass jemand in der Höhle ein Feuer entzündet hatte. Ein heller Schein drang aus einer Öffnung in der Felswand und tauchte den unteren Bereich der Böschung in gelbes Licht. Der Geruch von frisch verbrannten Zweigen stieg ihm in die Nase. Sie war also bereits vor ihm angekommen. Das wunderte ihn nicht. Sie nahm die Anrufungen ernst, mehr noch als er selbst. Hätte man Glaube und Hingabe in eine Waagschale legen können, so wäre das Pendel zu ihrer Seite ausgeschlagen. Doch er empfand keinen Neid. Sein eigener Glaube war immer noch stark genug, um den meisten Versuchungen zu trotzen. Doch wer hätte ermessen können, dass es so lange dauern würde. Zwanzig Jahre waren seit dem letzten Beschwörungsversuch vergangen. Zwanzig Jahre auf der Suche nach Antworten. Zwanzig Jahre des Fastens, der Entbehrung und der Selbstaufgabe. Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man im Verborgenen leben und das Dasein eines Schattens führen musste.

      Doch damit war es nun vorbei. Wenn die Runen nicht trogen, so stand ihnen in den kommenden Tagen ein neues Fenster offen. Alles, was sie jetzt noch benötigten, war ein Zeichen.

      Als er die Höhle erreichte, sah er die zwei Wächter, die rechts und links des Eingangs kauerten. Fast hätte er sie nicht bemerkt, so sehr verschmolz die Farbe ihres Fells mit dem Grau der Felswand. Reglos hockten sie da und starrten ihn aus ihren kalten Augen an. Ihn schauderte. Die Hand um seinen Stab gekrallt, senkte er den Kopf und schob die Matte aus Gras und Zweigen, die den Höhleneingang versperrte, beiseite. Die Augen vor der plötzlichen Helligkeit schließend, trat er ein.

      Der schwere Geruch verbrannter Kräuter schlug ihm entgegen. Ein rot flackerndes Feuer warf zuckende Schatten an die Wände.

      »Du bist da.«

      Es klang eher wie eine Frage denn wie eine Feststellung. Die Frau, die mit weit ausgebreiteten Armen vor dem Feuer kniete, hob ihren Kopf.

      »Ich habe dich erwartet.«

      Die Seherin bot wie immer einen erstaunlichen Anblick. Obwohl sie dieses heilige Amt schon viel länger innehatte als er, war sie wie immer bestrebt, sich zu jeder Zeremonie ein anderes Aussehen zu verleihen. Heute war sie als Vogel gekommen. Schwarze Federn klebten auf ihren nackten Schultern und zogen sich über den gesamten Rücken hinab. Ihre sonst grauen Haare waren schwarz gefärbt und mit Lederbändern zu Dutzenden von kleinen Zöpfen geflochten. Bronzene Glöckchen klingelten in ihnen bei jeder Bewegung ihres Kopfes. Auf ihr Gesicht hatte sie mit Hennafarbe Eulenfedern gemalt, die sie wie einen Vogel aussehen ließen. Auf ihrem Kopf thronte eine Tiara aus Laub und Beeren, das Zeichen ihrer Priesterwürde. Die messerscharfen Zähne, die ihr mit fünfzehn, während des Initiationsritus, zugespitzt worden waren, unterstrichen ihr raubtierhaftes Aussehen.

      »Der

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