Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten. Hunter S. Thompson

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Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten - Hunter S. Thompson

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finden. Die Liste der Opfer wäre ein furchterregendes Dokument. Neben den Bewohnern vor Ort würde sie Voyeure aller Art enthalten – hunderte freischaffender Päderasten und Legionen von Möchtegern-Orgienmeistern.

      Nichts davon jedoch wird vermutlich passieren, denn fast alles, was man über Big Sur hört, sind Gerüchte, Legenden oder glatte Lügen. Es ist ein Paradies für jeden, der sich gerne an Mythenbildungen beteiligt, und die ganze Gegend ist so vielfältig und weitläufig, dass die Phantasie schnell der Versuchung erliegt, schon beim bloßen Hinschauen verrückt zu spielen.

      In Wahrheit ist Big Sur ein Walhall – ein Ort, von dem viele schon gehört haben, über den aber kaum jemand irgendetwas zu sagen weiß. In New York erzählen sie einem, es sei eine Künstlerkolonie, in San Francisco reden sie von einem Nudistencamp, und wer dann schließlich selbst nach Big Sur hereinrollt und seine Augen weit aufreißt, um irgendwo einen nackten Künstler zu erspähen, ist sehr wahrscheinlich einfach nur enttäuscht. Jedes Wochenende muss sich Dick Hartfort, Besitzer eines Dorfladens, mit Leuten herumschlagen, die auf der Suche nach »Sexorgien«, einem »wilden Handgemenge von Betrunkenen« oder der »Straße zu Henry Millers Haus« sind – als ob sie nur Miller finden müssten, und alles andere würde dann schon laufen. Einige der Besucher bleiben eine Woche, streifen durch die Gegend, stellen Fragen und tauchen immer gerade da auf, wo man sie am wenigsten erwartet – schließlich ziehen sie wieder ab, von wo immer sie herkamen, und oft maulen sie, Big Sur sei »verdammte Wildnis, sonst nichts«.

      Nun ja, für den größten Teil trifft das auch zu, und die geographischen Grenzen sind so wenig greifbar, dass Lillian B. Ross – die zu den ersten Schriftstellern gehörte, die hier lebten – einmal meinte, es sei »kein Ort, sondern ein Bewusstseinszustand.« Sollte das leicht mystisch klingen, muss man bedenken, dass der Landstrich Big Sur – und der ist gemeint, wenn man von Big Sur spricht – ungefähr zwölf Kilometer in der Länge und dreißig in der Breite misst, und hier vielleicht dreihundert Menschen in den Bergen und an der Küs­te verstreut leben. Die »Stadt« selbst besteht aus Postamt, Dorfladen, Tankstelle, Werkstatt und Res­taurant und liegt knapp zweihundertfünfzig Kilometer südlich von San Francisco auf dem Highway One.

      Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Gegend so verlassen und verloren wie ein x-beliebiger Fleck in Amerika. Diese Zeiten sind vorbei. Es musste so kommen – Big Sur ist »entdeckt« worden. Das Life Magazin nannte es »Die raue romantische Welt an den Rändern« und präsentierte zur Beglaubigung eine Fotostrecke auf neun Seiten. Und das war’s dann. Auch ein Henry Luce schätzt Einsamkeit – nur will er das dann auch seinen fünf Millionen Lesern mitteilen. Und an manchen Wochenenden sieht es so aus, als seien diese fünf Millionen tatsächlich alle auf einmal hier und sprudelten förmlich über vor Fragen:

      »Wissen Sie, wo’s zur Künstlerkolonie geht? Ich bin aus Tennessee und muss mir das mal ansehen.«

      »Hör mal, du weißt doch bestimmt, wo hier das Nudistencamp ist?«

      »Darf ich Sie was fragen? Meine Frau und ich, wir schauen uns hier nach einem Haus um, das wir mieten wollen, zehn Zimmer, für die Wochenenden. Hätten Sie da vielleicht einen Tipp?«

      »Wie geht’s, Meister? Es muss hier irgendwo eine Marihuanafarm geben – aber wo?«

      »Guten Morgen, Sportsfreund. Ich stör Dich doch hoffentlich nicht. Ich … äh … also, weißt Du, wie man hört, macht ihr hier Jim-Dandy-Partys und so, und da frag ich mich, ob ich mitmachen darf, wenn ich ein paar Flaschen Schnaps mitbringe.«

      Sprüche wie diese haben Miller halb wahnsinnig gemacht: »Ah – ha! Sie also sind Henry Miller! Also, ich bin Claude Fink, und ich bin hergekommen, um mit euch allen Sex und Anarchie hochleben zu lassen.«

      Die meisten Leute, die von Big Sur gehört haben, wissen nichts darüber, außer eben, dass Henry Miller hier lebt – und für die meisten ist das auch völlig ausreichend. Sie haben nicht den geringsten Zweifel, dass jeder Ort, an dem Miller sich länger aufhält, eine Art sexuelles Mekka sein muss. Die bloße Vermutung führte schon dazu, dass sich Dutzende nach Big Sur locken ließen; wenn dann aber auch noch jemand einen Artikel über den Kult um Sex und Anarchie schrieb, den Miller hier angeblich veranstaltete, kamen sie aus der ganzen Welt, um dabei zu sein. Seit fast zehn Jahre geht das nunmehr so, und ein Ende ist nicht abzusehen.

      Die Ironie der Geschichte ist, dass Miller eigentlich herkam, um sich zurückzuziehen und in Einsamkeit zu leben. Als er sich 1946 hier niederließ, war er noch kaum bekannt. Seine wichtigsten Bücher (Im Wendezeichen des Krebses & des Steinbocks, Sexus, Plexus, Nexus, Der Schwarze Frühling etc.) kamen hier in den Staaten auf den Index (bis heute). In Europa, wo er seit den frühen Dreißigern lebte, genoss er einen Ruf als einer der wenigen unbestechlichen und kompromisslosen amerikanischen Autoren. Nachdem die Nazis Paris überrollt hatten, wurde sein Konto gesperrt, und er sah sich gezwungen, zurück in die Vereinigten Staaten zu gehen.

      Seine Verachtung für dieses Land zeigte sich in allem, was er schrieb, und seine Vision von der Zukunft Amerikas war bestenfalls eine zweischneidige Angelegenheit. In Die Welt des Sexus, einem verbotenen und kaum bekannten Buch von 1940, formuliert er es so:

      »Wenn die Welt der Neutren kollabiert – und diese stellt den größten Teil der Bevölkerung –, wird folgendes passieren: Sie werden den Sexus entde­cken. In der Periode der Dunkelheit, die darauf folgt, werden sie sich aufreihen wie Schlangen oder Kröten und sich in einem endlosen unzüchtigen Karneval gegenseitig anknabbern und bekauen. Sie werden sich, mit Hammer und Zange, in der Erde vergraben. Und werden alles ficken, was in Reichweite ist, ein Schlüsselloch genauso wie einen ekligen Leichnam. Alles auf diesem Kontinent ist möglich. Er war schon in den allersten Tagen der Schauplatz von grausamsten Praktiken, von Blutvergießen und schrecklicher Folter, von Sklaverei, Brudermord und sakralen Orgien, von Stoizismus, Hexerei und Lynch­morden, von Plünderungen und Brandschatzungen, von Habgier, Vorurteilen, Bigotterie und so weiter … All dies mussten wir schon mitansehen, bis auf den Ausbruch der Sexualität, der der letzte Ausbruch sein wird – gleich einer Flut, die jeden Automaten fortspült. Amerika, diese gewaltige und komplizierte Maschine, wird zugrunde gehen. Ein Polarlicht wird diese einsame dunkle lange Nacht ankündigen. Und auch wenn es heißt, es werde sich eines Tages ein besserer Menschentypus entwickeln – schon möglich. Doch wenn das passiert, wird es von Grund auf sein. Mag der gegenwärtige Bestand einen wundervollen Dünger ergeben, der neue Mensch wird daraus nicht hervorgehen.«

      Dies sind die Worte, die nachhallten, als er nach Big Sur zog, und sie verfolgten ihn regelrecht. Kaum hatte er sich hier angesiedelt, um aus einem »Alptraum mit Air-Condition« auszusteigen, wie er es nannte, waren unzählige Leute hinter ihm her und wollten ihm die Hand schütteln, ihn um Rat fragen und bedrängten ihn mit ihren eigenen Visionen und Mutmaßungen. Tag für Tag, Jahr für Jahr kämpften sie sich die steile staubige Straße zu seinem Haus in Partington Ridge hoch, wo Miller doch nur seine Ruhe haben wollte; denn wenn da oben ein freizügiger Karneval am Laufen war, wollten sie verdammt noch mal ein bisschen mitmischen. Beizeiten konnte man meinen, dass halb Greenwich Village auf seinem Rasen kampierte. Junge Ladies, mit nichts als einem Regenmantel bekleidet, zogen mitten in der Nacht vor seiner Haustür ihre Show ab, wilde Türken kamen per Anhalter aus New York und hatten alles, was sie besaßen, in ihren Reisetaschen dabei, Drifter aus allen Ecken des Landes schlugen hier auf, mit Säcken voller Essen und Whiskey, und sogar von Paris aus hatten es mittellose Franzosen bis hierher geschafft.

      Miller ließ nichts unversucht, um sich dem Ansturm zu widersetzen, aber es half alles nichts. Mit seinem Ruhm wuchs auch die Zahl der Besucher beständig an, von denen viele nicht einmal seine Bücher kannten. Literatur interessierte sie nicht, sie wollten Orgien. Umso geschockter waren sie, als sie auf einen ruhigen, akkuraten, auf Moral bedachten Mann trafen – und nicht auf das Partysexmonster, von dem man sich die ganzen Geschichten erzählte. Die Orgien blieben aus, und die enttäuschten Groupies zogen weiter nach Los Angeles oder San Francisco. Oder aber sie blieben

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