Original Linzer Tortur. Erich Wimmer
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Ein grüner Teppich, gewoben aus unschuldigen Blättern und Blüten. Stärker als je zuvor sah Lotte das Bild in ihrer Erinnerung. Sie kauerte in ihrem Geheimversteck am Rande des Schulhofs. In der Geborgenheit hinter den Büschen war sie eine Fee mit übernatürlichen Kräften. Sie schloss die Augen, murmelte einen Zauberspruch und verwandelte ihre lautstark herumtollenden Mitschülerinnen in einen Vogelschwarm. Dann überlegte sie, wer im Schulhof bleiben durfte und wen sie nach Afrika schicken würde.
»Du unterschreibst das jetzt«, befahl eine herrische Stimme direkt auf der anderen Seite der grünen Wand, hinter der Lotte saß. Dorothea, durchfuhr es die unfreiwillige Lauscherin, während sie vor lauter Schreck noch tiefer in ihre Deckung sank. Dorothea war zwei Jahrgänge über ihr, aber mit Sicherheit eine der ersten, die sie ganz weit fortschicken würde. Die Silhouette der älteren Mitschülerin wirkte gespannt und unheilvoll, wie die Figur eines Boten, der eine üble Nachricht brachte.
»Aber warum? Er hat mir nichts getan«, widersetzte sich eine andere Mädchenstimme dem Befehl.
»Jetzt pass einmal gut auf, Klara Artner«, sagte Dorothea, jede Silbe straff betonend, »der Gruber muss weg. Er hat mir auf den Busen gegriffen. Ich hab gesagt, er soll aufhören, aber er hat nur dreckig gegrinst und mich weiter bedrängt. Wäre nicht zufällig jemand gekommen, dann hätte er mich vergewaltigt. Solange der Gruber an unserer Schule ist und hier weiter unterrichtet, kann das jeder von uns passieren. Also muss er weg. Und deswegen unterschreibst du das jetzt.«
»Aber das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Klara, »der Herr Gruber tut so was nicht. Er ist ein guter Lehrer. Er würde nie …«
»Halt endlich dein Maul«, unterbrach Dorothea den Einwand, »wer Volksschädlinge unterstützt, ist selber einer. Und wenn ich das melde, und das werde ich, dann kommst du auch weg. Zusammen mit deiner ganzen Familie. Möchtest du das?«
Das Gewicht dieser Frage erdrückte die Worte der Vernunft. Hinter der Hecke war es ruhig geworden. Lotte betete für Klara, wünschte ihr Widerstandskraft und rief sich ganz bestimmte Bilder in Erinnerung, als könnte sie damit die Situation doch noch zum Guten wenden. Den etwas korpulenten Dr. Gruber, wie er schwer atmend das Klassenzimmer betritt und lächelnd das Buch über die oberösterreichische Geschichte verteilt, das er selbst für seine Kinder geschrieben hat. Dr. Gruber als Fußballspieler, wie er in der schwarzen Ordenstracht nach dem mehlweißen Lederball tritt, angefeuert von einer Unzahl von Jugendlichen, die alle mehr in ihm sehen als einen bloßen Lehrer. Und schließlich seinen unvergesslichsten Satz: »Aus Waisenkindern werden hier weise Erwachsene, das verspreche ich euch.« Dr. Gruber, ihr väterlicher Mentor, hatte seine Versprechen immer gehalten. Und nie, niemals hätte er einem Schüler Schaden zugefügt.
Nach diesem Tag hatten die Dinge ihren Lauf genommen. Und es gab kein Wort in keiner Sprache, um die Ungerechtigkeit auch nur annähernd zu beschreiben, die ihrem verehrten Lehrer in weiterer Folge widerfahren war. Denn mit der großen, unfassbaren Leidensgeschichte Dr. Grubers hatte auch ein kleinerer Leidensweg begonnen, der, weil er viele Jahrzehnte dauerte, in Summe vielleicht nicht weniger schmerzvoll gewesen war. Allen Gefühlen voran war es die Ohnmacht, diese absolute Ohnmacht, die Lotte zeitlebens Tätern gegenüber verspürte. Dieses Gefühl, nichts tun zu können, war in sie hineingewachsen wie eine giftige Wurzel und hatte ihre Widerstandskraft gelähmt. Deshalb habe sie auch einen Täter geheiratet, hatte ihr die Psychologin erklärt, weil sie in der Beziehung zu ihm das Trauma der Ohnmacht wiederholen und überwinden wollte. Die Psychotante hatte allerdings nicht erwähnt, wie das gehen sollte, mit dem Täter fertigzuwerden, wenn man ein geborenes Opfer ist.
Jetzt, ganz am Ende ihres Lebens, nach mehr als siebzig Jahren der Erniedrigung, hatte sie vom Schicksal einen Trumpf in die Hand bekommen, den sie unter allen Umständen ausspielen musste. Dieses Spiel war furchtbar, weil sie keine Erfahrung damit hatte. Zu jedem Zug, zu jedem Schritt musste sie sich erst mühsam überwinden. Ernst hatte ihr wirklich leidgetan. Ihn zu betäuben, zu fesseln und mit Honig zu übergießen war ein Kraftakt gewesen, der sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt hatte. Aber nach ihrem Abgang aus der Villa war hinter den Wolkenfetzen aus Schuld und Selbstgeißelung auch ein Horizont sichtbar geworden, der eine freiere Landschaft in Aussicht stellte, auf der zu leben sich unbeschwerter und selbstbestimmter anfühlte.
Lotte Wagner stand im Wohnzimmer einer Gründerzeitvilla an der Linzer Landstraße, in der Nähe der Eingangstür. Ihr schräg gegenüber, hinter einem barocken Sekretär, thronte Dorothea Porofsky und erhob eine Stimme, die noch genauso herrisch klang wie vor mehr als siebzig Jahren, als sie Klara Artner und weitere drei Mitschülerinnen, lauter Mauerblümchen und Duckmäuschen, zu dieser unsäglichen Unterschrift gezwungen hatte.
»Und was willst du machen, wenn ich nicht kooperiere?«
»Herrn Doktor Gruber wurde im KZ Gusen in den Bauch geschossen«, sagte Lotte Wagner mit klarer und fester Stimme, »fünf Mal. Und dann hat man den Schwerstverletzten über Nacht in eine fensterlose, ungeheizte Baracke gesperrt. Damit er dort drinnen krepiert. Aber am nächsten Tag, als man seine Leiche entsorgen wollte, da hat Herr Gruber noch immer gelebt … stell dir das vor! Und stell dir auch vor, was er in diesen nächtlichen Stunden mitgemacht hat, während er mit zerschossenem Bauch auf seinen Tod gewartet hat! Und das alles wegen der Falschaussage von einigen Mädchen, die ihn eines Verbrechens bezichtig haben, das er nie begangen hat.«
»Diese Behauptung ist eine Lüge, dummdreist und unerheblich«, sagte Dorothea Porofsky. »Jeder Mensch bekommt den Tod, den er verdient.«
Lotte Wagner überging diese fragwürdige Feststellung.
»Weißt du, Dorothea, ich war mein ganzes Leben kleinmütig. Ich habe zu oft nachgegeben. Ich wurde zu oft enttäuscht. Das Nachgeben hat mich ausgelaugt und erschöpft. Und es hat nichts gebracht, gar nichts, außer einer fortschreitenden Selbstauslöschung. Jetzt will ich nur noch eins: dass Johann Gruber seliggesprochen wird. In all der Würde, die ihm kraft seines integren Lebens und seines furchtbaren und ungerechten Todes zusteht. Dafür werde ich alles tun, was in meiner Macht steht. Und du solltest das auch. Deine Erklärung ist von größter Bedeutung. Ich habe aufgeschrieben, was damals im Schulhof wirklich passiert ist. Und jetzt bitte ich dich, diesen Bericht zu unterschreiben. Dann werde ich ihn der Kommission vorlegen. Du kannst auch gerne deinen eigenen Bericht schreiben oder meinen ergänzen, wo es dir sinnvoll erscheint. Aber was ich unbedingt brauche, das ist deine Unterschrift. Schreib auf, wie es wirklich gewesen ist, und steck den Brief in das Kuvert, das ich dir schon vorbereitet habe.«
»Sonst was?«, insistierte die Porofsky. »Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.«
»Sonst«, sagte Frau Wagner, »werde ich ein Dokument aus dem Nachlass von Pfarrer Gruber meinem Anwalt übergeben. Ein Dokument, das jahrelang verschwunden war. Es beweist, dass euer Immobilienbesitz illegal ist. Und dann werdet ihr dieses große, schöne Haus, das euer Großvater damals einer jüdischen Familie gestohlen hat, eben dieser Familie zurückgeben müssen. Ich habe hier eine kopierte Seite des Originals für dich vorbereitet. Schau es dir in Ruhe an.«
Frau Wagner legte das vorbereitete Schuldgeständnis und die Kopie des Gruberdokuments auf den Sekretär, zog sich dann aber wieder rasch zurück auf ihren alten Platz.
»Du bist komplett verrückt«, sagte Dorothea Porofsky, »du gehörst in eine Anstalt für geistige Krüppel.«
»Und noch etwas, Dorothea«, ließ sich Frau Wagner nicht mehr beirren, weil sie spürte, dass sie in dieser verbiesterten Wut, die in ihrer