Original Linzer Tortur. Erich Wimmer
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Читать онлайн книгу Original Linzer Tortur - Erich Wimmer страница 7
»Das kann doch alles nicht dein Ernst sein«, sagte Porofsky. »Du kommst hier herein, nach so langer Zeit, und drohst mir mit Geschichten, die deiner wirren Fantasie entspringen? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich an derlei Humbug auch nur einen Gedanken verschwende. Für mich hat dieses Gespräch nie stattgefunden. Und jetzt verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken.«
»Ja«, bestätigte Lotte Wagner, »ich werde verschwinden, so wie wir alle. Aber vorher hast du noch ein wenig Zeit, um dein Gewissen zu erleichtern.«
»Geh endlich!«, rief Porofsky.
»Du hast genau eine Woche«, sagte Lotte, bevor sie sich umwandte und den Raum verließ.
Nachdem die schwere Eichentür ins Schloss gefallen war, griff Dorothea Porofsky zu ihrem Mobiltelefon, wählte eine Nummer und hielt sich nicht mit einer Begrüßungsfloskel auf.
»Komm sofort her«, befahl sie in einem Ton, durch den jeder Spielraum für den Anderen verschwunden war. Dieser Andere war es offensichtlich nicht gewohnt, derart angeherrscht zu werden. Dorothea Porofsky schnitt ihm das Wort ab, wiederholte ihren Befehl und fügte noch etwas an.
»Wenn du nicht in zehn Minuten vor dem Haus stehst, dann ist dein Porsche weg. Dann fährst du in Zukunft mit dem Waffenrad. Und ich mache keine Scherze. Also beweg deinen verweichlichten Arsch hierher.«
4
»Herzlichen Dank, gnädige Frau«, sagte Korab, nahm den Hundert-Euro-Schein mit dezenten, pinzettenartigen Fingerbewegungen in Empfang und versenkte ihn sorgsam in der gähnenden Ledergurgel seiner Geldbörse. Gleichzeitig visualisierte er seine Hauptnahrungsmittel, um fünfzig Prozent verbilligte Brote vom Vortag, deren Erwerb mit diesem Geld für die nahe Zukunft gesichert war. Für Korab wurde jede Art von Nahrung geschmacklich umso interessanter, je näher sie ihrem Ablaufdatum und damit ihrer Verramschung rückte. Außerdem ergaben sich aus der Kombination wegwerfgefährdeter Nahrungsmittel originelle Rezepte, die in keinem Kochbuch der Welt zu finden waren. Altlachs mit Joghurt, Biopilzen und glasigen Bauchspeckstreifen auf Vortagsbrot. Realistisch betrachtet waren sogar solche aus der Not geborenen Experimente reiner Luxus. Aber noch billiger war kaum möglich. Das hatte das entsetzte Gesicht des Bäckers klar zum Ausdruck gebracht, den Korab einmal gefragt hatte, ob es auch Brote vom Vortag des Vortages gäbe, mit entsprechender Vorvortagsvergünstigung. Aktuell hatte sich das Blatt vorübergehend gewendet. Hundert ganze Euro. Es war doch richtig gewesen, hier vorbeizuschauen.
»Kommen Sie weiter«, sagte die alte Dame, »und lassen Sie die Schuhe an. Das ist bei mir so üblich.«
Frau Rabentals Backsteinhäuschen stand mitten im Linzer Wasserwald und war mit diesem billigen, aber unverwüstlichen Nachkriegsrieselputz versiegelt, der Korab immer schon als Folie eines Alptraums erschienen war. Spitze Finger und Zungen, die eine betongraue Meeresoberfläche durchbrechen wollen, aber in dem Moment erstarren, wo sie die Freiheit berühren. In den Innenräumen roch es nach billigen Putzmitteln. Auf alten, aber gepflegten Truhen standen haufenweise kleine menschliche Holzfiguren mit ernsten, psychologisch vieldeutigen Gesichtern, die aber in ihrer Gesamtheit ironisch wirkten, weil sich ihre Kleinheit und ihre Ernsthaftigkeit aneinander brachen.
»Haben Sie die Nachrichten der letzten Woche verfolgt?«, kam Frau Rabental sofort zur Sache, während Korab Platz nahm in einem süßsenfbraunen Polstersessel, dessen Stoffbezug an manchen Stellen verblichen war, als hätte man ihn mit feinem Schmirgelpapier bearbeitet. Räude, schnöder Götterfunken, verballhornte Korabs inneres Amt für die Erneuerung alter Wortdenkmäler.
»Im Großen und Ganzen«, antwortete er, dachte dabei an die Gratiszeitungen, denen er notgedrungen seine Informationen verdankte, und suchte schließlich nach Schubladen für sein Gegenüber. Alte Lady. Mitte bis Ende Siebzig. Hoher, windschlüpfriger Haarhelm mit milchkaffeeweißem Grundton. Adlernase und Adlerblick, unheimlich heimlich und scharf. Kann wahrscheinlich trotz ihres Alters immer noch aus hundert Metern Höhe eine kleine Wiesenmaus orten, würde die Maus aber nach dem Sturzflug bestimmt laufen lassen und sich von Grashalmen und Kräutern ernähren.
»Gut«, sagte Frau Rabental, »dann haben Sie sicher von dem Mord am Froschberg gelesen, diesem Mord an dem pensionierten Waffengroßhändler Ernst August Wagner.«
»Hab ich«, bestätigte Korab, während er einen Bleistift und sein Sudelbuch zückte, in dem er sich die Eckdaten zu notieren gedachte. »Soweit ich das mitbekommen habe, sucht die Polizei dringend nach seiner Frau. Die ist seither verschwunden.«
»Aber Lotte Wagner hat nichts mit dem Mord zu tun!«, ereiferte sich Frau Rabental. »Rein gar nichts!«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Korab.
»Genau darum geht es«, sagte Frau Rabental, »aber damit Sie das verstehen, muss ich ein wenig ausholen. Vor einiger Zeit habe ich diesen Brief bekommen …«
Aus einer unscheinbaren Mappe, die auf dem Wohnzimmertisch lag, nahm Frau Rabental ein einzelnes Blatt und reichte es Korab.
»Anfänglich«, fuhr sie fort, »habe ich das Ganze für eine Seniorenabzocke gehalten. Ich war sogar kurz davor, den Brief in den Müll zu werfen. Jorge, ein unbekannter Neffe aus Südamerika, schreibt ausgerechnet mir, weil ihm mein Schicksal so sehr am Herzen liegt. Mehr Klischee geht gar nicht. Aber dann habe ich aus Spaß weitergelesen und wurde stutzig. Dieser Jorge wusste Dinge über meine Schwester, die man unmöglich erfinden kann. Zum Beispiel die Nummer, die man Esther damals ins Handgelenk tätowiert hatte, und die genaue Stelle von einem Muttermal. Meine Schwester und ich, wir waren beide als Kinder zusammen mit unseren Eltern im KZ Mauthausen und Gusen. Dort wurden wir getrennt. Ich habe überlebt und glaubte, dass man alle anderen ermordet hat. In seinem Brief behauptet dieser Neffe, dass es umgekehrt genauso war. Esther sei überzeugt gewesen, dass meine Eltern und ich das Lager nicht überlebt hatten. Ihr war das auch von verschiedenen Seiten bestätigt worden, und deshalb hat sie auch keine Nachforschungen angestellt, nachdem sie bei einer Adoptivfamilie untergekommen war, die mit ihr nach Südamerika ging. Ja, und dort hat Esther ihr ganzes weiteres Leben verbracht.«
Frau Rabental gönnte sich eine kurze Nachdenkpause und sprach dann konzentriert weiter.
»Vor Kurzem ist sie gestorben, und ihr Sohn hat in ihrem Nachlass ein kleines Notizbuch gefunden, das ihr ein katholischer Priester namens Johann Gruber noch im KZ anvertraut hat. Sie wollte sich aber mit den schlimmen Erinnerungen nicht mehr auseinandersetzen. All die Jahre hat sie das Buch in irgendeiner Dachbodenkiste aufgehoben. Jetzt, nach ihrem Tod, hat ihr Sohn darin gelesen und etwas Ungeheures festgestellt: Das kleine Buch enthält detaillierte Aufzeichnungen über die Enteignung von jüdischen Familien am Ende der Dreißigerjahre in Linz. Unter anderem auch, und jetzt kommt’s, von unserer Familie. Ariel, unser Vater, hat damals in seiner Verzweiflung zusammen mit einem Anwalt Herrn Gruber aufgesucht und ihm eidesstattlich erklärt, dass er unser Mehrfamilienhaus an der Landstraße niemals freiwillig an den regimetreuen Hausmeister Porofsky abgetreten hat. Vielmehr habe man ihn unter Androhung körperlicher Gewalt – auch seiner Familie gegenüber – gezwungen, die Immobilie zu einem Spottpreis zu verscherbeln. Diese Aussage meines Vaters sowie mehrere andere, vergleichbare Fälle wurden von Dr. Gruber schriftlich festgehalten und gesammelt. Dieser katholische Priester war für viele meiner jüdischen Mitmenschen die letzte, moralisch noch integre Anlaufstelle. Zum Beweis, dass diese Geschichte echt ist, hat mein Neffe eine unseren Fall betreffende Seite dieses Dokumentes kopiert und dem Brief beigelegt.«