Midrasch. Gerhard Langer
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Die zweite entscheidende Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Midrasch sind Die Rabbinendie Rabbinen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Z., mehr noch aber der gescheiterte Aufstand unter Bar Kochba um 135 n.Z. stellten die Weichen für diese Bewegung, die das Judentum im Laufe der Zeit maßgeblich beeinflusst. Anfangs sicherlich eine Minderheit in der jüdischen Bevölkerung, setzt sich diese Gruppe aus unterschiedlichen Strömungen zusammen, deren gemeinsames Ziel es ist, jüdische Identität auf der Grundlage der Überlieferungen zu sichern. Die zentrale Basis der Bewegung ist das Lehrhaus, wo junge Männer in enger Beziehung zu ihren Lehrern an der Bibel und an den sich entwickelnden weiterführenden Lehren ausgebildet werden. Ein Geheimnis des langsam wachsenden Erfolgs der rabbinischen Bewegung ist sicherlich ihre Bereitschaft, unterschiedliche Aspekte jüdischen wie nichtjüdischen Lebens und Denkens zu integrieren und so zu verarbeiten, dass sie ein eigenständiges rabbinisches Gepräge erhalten. So nimmt man priesterlich-kultische Vorgänge auf, aber |21|auch messianisch-apokalyptische Strömungen, esoterisch-magische Elemente bei gleichzeitiger Distanzierung und Vorsicht vor politisch ungeschicktem Aktivismus oder religiösem Fanatismus. Vergleichbar den griechisch-römischen Rhetoren sind Rabbinen ausgebildete Experten für jüdisches Recht, aber nicht selten auch Wundertäter und Heiler, Astrologen und vieles mehr. Üblicherweise werden die rabbinischen Gelehrten auch nach Zeitepochen unterteilt:
Tannaiten von aram. teni bzw. hebr. schana = wiederholen, lehren, lernen | Amoräer von amar = sagen, kommentieren | Savoräer von savar = meinen | Geonim von gaon = erhaben |
Hillel und Schammai bis Jehuda ha-Nasi (Rabbi) | bis etwa 500 n.Z. | Bearbeiter des babylonischen Talmuds 6. und Beginn 7. Jh. | Schuloberhäupter Babyloniens bis 11. Jh. |
Midrasch basiert auf dem rabbinischen Verständnis von Schrift und Tora. Wie ist dies zu verstehen?
Dreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am SinaiDreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am Sinai. In SifDev § 313 zu Dtn 32,10 heißt es über die Offenbarung:
„Er gab ihm Einsicht (jevonenehu)“ – durch den Dekalog. Das lehrt: Als das Wort aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, kam, sahen es die Israeliten und verstanden es und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse.
Die Einsicht (bina), von der im Bibeltext die Rede ist, verweist nach rabbinischer Ansicht bereits auf die die darin enthaltene Auslegung. Der Text ist Träger von Bedeutung, die entschlüsselt, erarbeitet werden muss. Der Dekalog fungiert als paradigmatischer Text, der Sinai als paradigmatischer MomentSinai als paradigmatischer Moment in Bezug auf Midrasch. „Paradoxerweise entfaltet sich das göttliche Wort durch menschliche Rede. Als exegetischer Akt und Vorgang ist diese menschliche Rede Midrasch“ (Fishbane, Midrash, S. 14). Fishbane verwendet in diesem Zusammenhang die von de Saussure stammende Unterscheidung von langue und parole, um die Bedeutung des aktualisierenden Sprechakts (parole) des Midrasch für die kanonisierte langue der Tora zu verdeutlichen.
Die Rabbinen sehen die Tora als ein komplexes Bezugssystem an. Günter Stemberger formulierte es einmal so:
Rabbinische Tradition hat durch die Jahrhunderte an der These festgehalten, dass die am Sinai geoffenbarte Tora auch schon die spätere Auslegung mitenthält, das traditionelle Verständnis also schon mit dem Bibeltext mitgegeben |22|ist und an dessen Autorität teilhat, eine Auffassung, die gerade innerhalb orthodoxer Kreise des Judentums Auslegungsunterschiede oft zu Grundsatzfragen werden läßt. Jedenfalls ist damit grundgelegt, daß die auf den Buchstaben genau abgegrenzte Tora vom Sinai unendliche Bedeutungsfülle hat, die Tora unendlich erneuerungsfähig ist und ihr doch nie Neues hinzugefügt werden kann. Der liturgische Dichter Jannai (6. Jh.) hat es in einer Qerova zu Ex 34,27 prägnant formuliert: „Nichts in ihr wird erneuert – und wenn erneuert wurde, so ist es gar nichts Neues“. Oder in der Wendung des Ben Bag Bag: „Drehe und wende sie; denn alles ist in ihr“ (mAv 5,21). (Verständnis der Tora, S. 4)
Die Bibel kann gedreht und gewendet werden, alles ist in ihr. Sie ist ein Bezugssystem, in dem alle Bereiche miteinander in Beziehung stehen und daher auch für die Auslegung verwendet werden können. Hierzu ist das Stichwort der Intertextualität wichtig, das noch oft begegnen wird.
Der Bibeltext ist in hebräischer SpracheSprache überliefert. Sie ist die Sprache der Schöpfung und der Offenbarung. Auslegung kann sich daher nicht nur auf Inhalte beziehen, sondern nicht zuletzt auf die sprachliche Äußerung und Form. Worte und Sätze können als Buchstabenkombinationen verstanden werden, die neu arrangiert wiederum eine Fülle von Auslegungen in sich bergen.
Auch wenn die Völker der Welt (vor allem die Christen) über den Bibeltext Zugang zur Offenbarung gewonnen haben, bleibt nach rabbinischer Ansicht die Besonderheit Israels in der Spezialoffenbarung der so genannten mündlichen Tora. Unter dem Kapitel Hermeneutik wird ausführlicher über das Offenbarungsverständnis und die hermeneutischen Grundsätze der Rabbinen gehandelt. Es mag hier genügen, den Referenzrahmen kurz aufgezeigt zu haben. Er besteht in der Gruppe der Rabbinen, einem autoritativen Bibeltext und einem Verständnis von Offenbarung, das es ermöglicht, alle Teile dieser Bibel miteinander in Beziehung zu setzen und auszulegen. Die Notwendigkeit der Auslegung, aber auch ihre in den Tiefenschichten des Textes verborgene Bedeutung, ist Bestandteil der Offenbarung.
Midrasch ermöglicht die dauerhafte Gültigkeit der Offenbarung, „ist primär religiöse Betätigung, ewiger Dialog Israels mit seinem Gott“ (Stemberger, Midrasch, S. 26).
3. Eine kurze Begriffsgeschichte von darasch/Midrasch
Der mit dem Stichwort Daraschdarasch verbundene Dialog mit Gott beginnt bereits in der Bibel. Wie Gerleman/Ruprecht (drš) zeigen, macht die Bedeutung des Begriffes darasch schon hier eine Entwicklung durch. In profaner Verwendung meint er zumeist ein sich |23|Erkundigen nach der Beschaffenheit einer Sache, aber auch das Streben und Trachten (vgl. z.B. Jes 1,17; 16,5; Am 5,14; Est 10,3) und sich um etwas Kümmern (vgl. Jer 30,14; Ps 142,5; Spr 31,13; 1 Chr 13,3). In der wesentlich häufigeren Verwendung im religiösen Kontext bedeutet darasch ein Fordern von Blut (z.B. Gen 9,5), eines Gelübdes (Dtn 23,22), Opfers (Ez 20,40) u.ä., vor allem aber die Befragung GottesBefragung Gottes durch einen Gottesmann, Seher, Propheten (u.a. in 1 Sam 9,9; 1 Kön 14,5; 22,7; 2 Kön 22,13). Auch fremde Götter oder Totengeister werden befragt (Dtn 18,11; Jes 8,19; 19,3; 2 Kön 1,2). Gerleman/Ruprecht konstatieren eine Veränderung der Bedeutung in der Exilszeit zu einem „Habitus des Frommen“ (Sp. 464). Dieser entsteht aus der Entwicklung von der aufgrund einer Notlage notwendigen Befragung, der Klage des Einzelnen (vgl. u.a. Ps 22,27; 34,5; 69,33; 77,3) und des Volkes (vgl. Jes 58,2) hin zu einem Habitus des sich an Gott Haltens. „Dieser Übergang ist vollzogen in der deuteronomistischen Theologie, wo Umkehr und neues Halten der Gebote auf Seiten des Menschen Voraussetzung wurde für Gottes Hören der Klage (vgl. z.B. 1 Sam 7,3–4; ferner Dtn 4,29; Jes 55,6f.; 58; Jer 29,13; 2 Chr 15,2 und 4)“ (Sp. 465–466). Diese Haltung steht in einem Gegensatz zum Götzendienst (Jes 65,1.10; Jer 8,2; Zef 1,6 u.a.). darasch wird geradezu zum Synonym für „die Gebote halten“ oder „den Willen Gottes erfüllen“ (1 Chr 22,19;