Midrasch. Gerhard Langer
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4. Eine tragfähige Midraschdefinition
Von der Begriffsverwendung von darasch und Midrasch in Bibel, Qumrantexten und rabbinischer Literatur her ließ sich überblickshaft eine Entwicklung feststellen, an deren Beginn die Befragung Gottes durch Mittler stand, anschließend die Vermittlung und Verkündigung von Tora und schließlich die hermeneutische Durchdringung und Erforschung der Schrift. Eine tragfähige Definition des Midrasch muss über eine reine Begriffsanalyse hinausgehen.
In der Bedeutung von Nachforschen, Ergründen und VerkündenNachforschen, Ergründen und Verkünden mit Bezug zur Bibel und verbunden mit hermeneutischen Richtlinien, wie sie schon in tannaitischer Literatur, vor allem in der Folgezeit vorherrschend wird, ist nicht jeder kreative Umgang mit dem Text Midrasch.
In Abwandlung von Gary Portons DefinitionDefinition lässt sich Midrasch wie folgt beschreiben:
Genre | |33|Midrasch ist ein Genre, das in direkter Beziehung zu einem religiös autoritativen Text steht, in dem dieser explizit zitiert oder auf ihn klar erkennbar angespielt |
Hermeneutisches Verfahren | und er in der Folge ausgelegt wird. |
Referenzrahmen | Midrasch basiert auf einem Verständnis der Einheit, Widerspruchslosigkeit, Klarheit und Vollkommenheit der Schrift und |
Hermeneutisches Verfahren | wendet hermeneutische Methoden (Ausdeutung intertextueller Bezüge, Auslegungsregeln etc.) an, um die Lücken (gaps) des Textes zu füllen und die Welt der Schrift mit der aktuellen Welt der lesenden/hörenden und auslegenden Menschen zu verbinden. |
Midraschelemente können diesen Kriterien entsprechend sowohl in Rewritten Bible/parabiblischen Texten als auch im Targum enthalten sein, ohne dass diese per se Midrasch sind. Die Funktion des Midrasch besteht, was noch ausführlich behandelt werden soll, in der Aneignung des Bibeltextes im Sinne einer (meist, aber nicht immer) für verschiedene Meinungen offenen Interpretation. Dabei werden in der Regel aktuelle Fragen und Probleme beantwortet bzw. zu lösen versucht, ohne dass man Midrasch auf das Moment der Aktualisierung reduzieren dürfte. Elemente der kreativen Geschichtsschreibung oder Philologie sind darauf zu überprüfen, inwieweit sie bereits im biblischen Text und Kontext eine Stütze finden.
Macht man, wie dies z.B. Ulmer tut, die Trägergruppe der Rabbinen und ihre Theologie und Weltsicht für Midrasch besonders stark, so kann es weder in der Bibel Midrasch geben noch in der (Post-)Moderne.
Eine Darstellung einer engen Definition von Midrasch könnte so aussehen:
Bibeltext | ⇒ | Rabbinen und ihr hermeneutisches System (Schriftverständnis, Weltbild, Theologie) | + | spezifische formale Struktur | = | Midrasch |
Beispielerzählungen (maʿasim) oder Gleichnisse (meschalim) spielen im Rahmen der Textsorte Midrasch eine wichtige Rolle, weshalb sie in diesem Buch auch unter Abschnitt VI ausführlicher behandelt werden, sind selbst aber nicht Midrasch.
Neben der engen Definition von Midrasch findet sich eine breite Verwendung des BegriffsNeben der engen Definition von Midrasch findet sich eine breite Verwendung des Begriffs, die innerbiblische Auslegung, Rewritten |34|Bible, aber auch künstlerische Zeugnisse wie Synagogenmosaike, Nachdichtungen etc. einschließt (vgl. beispielhaft Englard, Mosaics as Midrash). So wird Midrasch mitunter gleichbedeutend mit aktualisierender Auslegung und kreativer Weiterentwicklung verstanden. Der Religionspsychologe Mordechai Rotenberg (The Trance of Terror) etwa hat 2006 Midrasch in einem Prinzip des „See it and renew it“ verortet und dem miqdash gegenübergestellt, also einem von Ritualen und Zeremonien durchsetzten Bedürfnis des Menschen („See this and sanctify it“). Rotenberg sieht das Midraschprinzip als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, die ohne es zugrunde gehen würde.
Von einer beliebigen Verwendung von Midrasch ist abzuraten. Ein offeneres Verständnis von Midrasch könnte allerdings dadurch entstehen, dass man die Trägergruppe nicht auf die Rabbinen beschränkt, und indem man stärker die formalen Elemente oder die hermeneutischen Grundlagen/Vorgehensweisen in den Mittelpunkt stellt.
Eine solche weitere Definition von Midrasch ließe sich so illustrieren:
Bibeltext | ⇒ | hermeneutisches System (Schriftverständnis, Auslegungstechniken) | +/oder | formale Struktur | = | Midrasch |
Eine Möglichkeit wäre, dieses offenere System zur Unterscheidung vom eigentlichen rabbinischen Midrasch als midraschisch zu bezeichnen.
In diesem Sinne findet man bereits in der Bibel eine Reihe von hermeneutischen Vorgängen, die für das Genre Midrasch typisch sind und midraschisch genannt werden können.
5. Midrasch in/aus Palästina
Midrasch hat seine örtliche Heimat vor allem im antiken Palästina. In BabylonienBabylonien wurde ebenfalls auf dem Gebiet des Midrasch gearbeitet und palästinisches Material verarbeitet, es entstand aber keine eigene Kategorie Midrasch. Vielmehr wurden Midrasch enthaltende Materialien in den babylonischen Talmud integriert. Halachische Entscheidungen werden auch im Bavli häufig mit diesem Material untermauert, vor allem, wenn Bibelstellen die in der Mischna ohne Bibelbezug gebotenen Entscheidungen festigen sollen.
|35|Haggadische Schriftauslegung taucht in vielfältiger Form auf, mitunter in kürzeren Abschnitten, nicht selten aber auch in der Form von umfassenderen und zusammenhängenden Auslegungen. Hier liegen den Redaktoren mit großer Wahrscheinlichkeit eigenständige Quellen (mündlich und schriftlich) vor. Neben Übernahmen (mit späteren Überarbeitungen) aus palästinischen Quellen sind vor allem die babylonischen „Eigenproduktionen“ von Interesse. Eine solche größere Einheit, die Dagmar Börner-Klein (babylonische Auslegung) und Eliezer Segal (Esther Midrash) intensiv untersucht haben, ist die Auslegung der Ester-Geschichte in bMegilla 10b-17a, eine andere der von Stemberger analysierte Abschnitt in bSota 9b-14a (vgl. dazu auch Langer, Ester-Midrasch; Diaspora; Drama). Ähnliches gilt auch für andere Texte wie bSchabbat 86b-89a, einen Midrasch zur Gabe der Tora oder für den apokalyptischen Abschnitt ab bSanhedrin 97a.
Eine eigene Midraschsammlung, die sehr wahrscheinlich im 9. Jh. in Babylonien entstand und damit eine große Ausnahme bleibt, ist Pitron Tora, eine Sammlung von Auslegungen zu Lev-Dtn. Sie ist auch deshalb von Interesse, weil sie Interpretationen von Benjamin al-Nahawandi, einem Karäer, zitiert.
Auch die so genannten Scheiltot, eine in gaonäischer Zeit entstehende Gattung im Frage- und-Antwortstil, enthalten viel midraschisches Material. Midrasch ist also keineswegs unbekannt und Teil der babylonischen Traditionsliteratur. Die Frage, warum es praktisch keine eigene Midraschliteratur zu größeren Einheiten oder zu gesamten biblischen Büchern zu geben scheint, ist schwer zu beantworten. Man könnte es rein als redaktionelle Entscheidung betrachten, möglicherweise darin begründet, dass man zu wenig größere Midraschkomplexe – über die eben genannten hinaus – hatte, die man selbständig hätte „publizieren“ können. Liegt dies an der anderen Struktur der rabbinischen Studien in Babylonien? Oder an der stärkeren Betonung der schon viel entwickelteren Halacha? Wieweit kennt man schon die palästinischen Midraschim und findet, dass man wenig darüber hinaus braucht? Hier steht zweifellos noch Forschung aus.
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