Midrasch. Gerhard Langer
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Stern, David, „Midrash and Indeterminacy.“ Critical Inquiry 15/1 (1988), S. 132–161.
Vermes, Geza, Bible and Midrash. Early Old Testament Exegesis. In: ders. (Hg.), Post-Biblical Jewish Studies. Leiden 1975, S. 59–91; ders., Scripture and Tradition in Judaism: Haggadic Studies. Leiden 1961.
Visotzky, Burton, Midrash, Christian Exegesis, and Hellenistic Hermeneutics. In: Bakhos, Carol (Hg.), Current Trends in the Study of Midrash (JSJ Supplements 106). Leiden – Boston 2006, S. 111–132; ders., Golden Bells and Pomegranates: Studies in Midrash Leviticus Rabbah (TSAJ 94). Tübingen 2003; ders., Fathers of the World: Essays in Rabbinic and Patristic Literature (WUNT 80). Tübingen 1995; ders., „Anti-Christian Polemic in Leviticus Rabbah.“ PAAJR 56 (1990), S. 83–100; ders., „Jots and Tittles: On Scriptural Interpretation in Rabbinic and Patristic Literatures.“ Prooftexts 8 (1988), S. 257–269.
Weiss Halivni, David, Revelation Restored. Divine Writ and Critical Responses. Boulder 1997; ders., Peshat and Derash. Plain and Applied Meaning in Rabbinic Exegesis. Oxford – New York 1991.
2. Offenbarung, Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Die Offenbarung der Tora geschah nach rabbinischer Ansicht entweder (hauptsächlich) in direkter Gottesbegegnung mit dem Volk oder (wesentlich seltener) – so vor allem in späterer Entwicklung – über den Mittler Moses (vgl. Stemberger, Mose).
In der MekhJ Bachodesch 9 heißt es:
„Und das ganze Volk sah die Stimmen (und die Blitze)“ (Ex 20,18). Sie sahen das Sichtbare und hörten das Hörbare – Worte des Rabbi Jischmael. Rabbi Aqiva sagt: Sie sahen und hörten das Sichtbare. Sie sahen das feurige Wort, wie es aus dem Mund des Allmächtigen kam und sich auf den Tafeln einschlug. Es heißt ja: „Die Stimme JHWHs schlägt feurige Flammen aus“ (Ps 29,7).
|41|„Und das ganze Volk sah die Stimmen“: Stimme, Stimmen über Stimmen; Blitz, Blitze über Blitze. Wie viele Stimmen und wie viele Blitze waren es denn? Vielmehr ließen sie jeden einzelnen nach seiner Fassungskraft hören. Es heißt ja: „die Stimme JHWHs in Kraft, [die Stimme JHWHs voll Majestät]“ (Ps 29,4).
Rabbi sagt: Das soll das Lob der Israeliten verkünden. Denn als sie alle vor dem Berg Sinai standen, um die Tora zu empfangen, da hörten sie das Gotteswort und wussten es zu deuten (mefarschim oto). Es heißt ja: „Er umfasst es, er versteht es, er hütet es wie seinen Augenstern“ (Dtn 32,10): Sobald das Wort ausging, wussten sie es zu deuten.
Das Volk Israel empfängt die OffenbarungDas Volk Israel empfängt die Offenbarung und unterscheidet sich von allen anderen Völkern darin, dass es das Wort Gottes nicht nur hört (und sieht), sondern versteht und dadurch interpretieren kann.
Dabei ist das Thema der mündlichen Überlieferung für die jüdische Tradition wesentlich. Was versteht man darunter? Einmal wird der Begriff sehr allgemein als Hinweis auf die Bedeutung der nichtschriftlichen Weitergabe von Tradition im Lehr- und Lernkontext verstanden, bei der Auswendiglernen und mündliche Diskussion eine große Rolle spielen. Dann kann damit eine Fülle an Meinungen, Lehren und halachischen Entscheidungen gemeint sein, die aus der Schrift mithilfe des Midrasch abgeleitet und weitergegeben werden.
Darüber hinaus gibt es die Vorstellung von einer von der Schrift getrennt zu betrachtenden Überlieferung, der Halacha an Moses vom SinaiHalacha an Moses vom Sinai. Das beweist etwa die bekannte Stelle in bMenachot 29b. Hier lauscht Moses im himmlischen Lehrhaus der komplexen Bibelauslegung des R. Aqiva, der er aber nicht folgen kann. Er beruhigt sich jedoch, als Aqiva bei einer bestimmten Sache von der „Halacha an Moses vom Sinai“ als Erkenntnisquelle spricht. In jPea 2,6,17a wird formuliert, dass „Schrift, Mischna, Halachot, Talmud, Toseftot, Haggadot und auch das, was ein kundiger Schüler in Zukunft einmal vor seinem Lehrer sagen wird, bereits am Sinai dem Moses gesagt wurde.“ In bBerachot 5a wird Ex 24,12 atomisiert und die einzelnen Begriffe werden auf Pentateuch, Mischna, Propheten, Schriften und Talmud bezogen, die alle Moses am Sinai erhielt.
Zu diesem Konzept hat z.B. David Weiss Halivni (Revelation, S. 54–74) wichtige Beobachtungen gemacht. Dementsprechend begegnet in der tannaitischen Periode die Rede von einer schriftunabhängigen Moseshalacha äußerst selten (vgl. SifDev § 351) und wird vor allem in den Meinungsäußerungen R. Aqivas in Frage gestellt. Vielmehr dienen mehrheitlich Schriftpassagen als Belege für eine EntscheidungSchriftpassagen als Belege für eine Entscheidung. Im folgenden Text ist Aqiva der Meinung, dass die eine Tora vom Sinai bereits alle Auslegung enthält:
|42|„Und die Torot“ (Lev 26,46): Das lehrt, dass Israel zwei Torot gegeben wurden, eine schriftlich und eine mündlich.
Es sagte (dagegen) R. Aqiva: Hatte denn Israel nur zwei Torot? Es wurden Israel doch viele Torot gegeben! (So heißt es doch:) „Das ist die Tora des Ganzopfers“ (Lev 6,2); „das ist die Tora der Mincha“ (Lev 6,7); „das ist die Tora des Schuldopfers“ (Lev 7,1); „das ist die Tora des Heilsopfers“ (Lev 7,11); „Das ist die Tora, wenn ein Mensch in einem Zelt stirbt“ (Num 19,14). „Die JHWH zwischen sich und den Israeliten gegeben hat“ (Lev 26,46) – Moses verdiente es, zum Mittler zwischen Israel und seinem Vater im Himmel zu werden. „Auf dem Sinai durch die Hand des Moses“ (ebd.): Das lehrt, dass die Tora mit ihren Halachot, ihren Feinheiten und ihren Erklärungen durch Moses vom Sinai gegeben wurde. (Sifra Bechuqqotai 8.12, Weiss 112c)
Aqivas Position ist hier die einer im Grunde einzigen Tora, die in sich das Potenzial der Auslegung enthält. Auch SifDev § 313 drückt diese Meinung aus (oben schon zitiert), wonach die Israeliten am Sinai das Wort Gottes verstanden „und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse“.
Die eigenständige und vom Bibeltext unabhängige Überlieferung – vor allem von Halacha – ist in der frühen rabbinischen Ära präsent, man denke an viele Stellen der Mischna, die keine Ableitung aus der Schrift haben. Gleichwohl verstärkt sich das Bemühen – z.B. in den halachischen Midraschim –, diese Neuerungen in Einklang mit der Schrift zu deuten.
Weiss Halivni ortet eine Tendenz der Tannaiten, das gültige Recht weitgehend aus dem Text selbst abzuleiten.
Gegen Ende der talmudischen Periode und darüber hinaus änderte sich der rabbinische Standpunkt total, indem man nun existierendes Recht – sogar solches, das mit wohlbekannten exegetischen Erklärungen verbunden war – aus einem eigenen Corpus nichtschriftlicher Information ableitete, das explizit geoffenbart und gemeinsam mit den Schriften genauestens überliefert wurde – die Halacha an Moses vom Sinai. (Weiss Halivni, Revelation, S. 64)
Die Rede von der Halacha an Moses vom Sinai unterliegt tatsächlich im Laufe der Zeit einem Wandel und ist abhängig von der jeweiligen Quelle (vgl. dazu die umfassende Studie von Hayes, Halakhah le-Moshe). In Mischna, Tosefta und im Bavli ist diese Halacha an Moses als eigenständig gegenüber der Schrift zu denken. Im Bavli wird sie schließlich zur Demonstration der rabbinischen Autorität, die sich unabhängig von einer midraschischen Ableitung aus der Schrift als unveränderliche Lehre durchsetzt, während im palästinischen Talmud nicht immer klar zwischen Schrift und Halacha an Moses unterschieden wird.
Die mündliche Tora wird in jPea 2,4,17a als Basis des Bundes bezeichnet und ist wichtiger als die schriftliche Tora. Die Mischna |43|als Inbegriff mündlicher Tora wird als alleiniges Mysterium Israels Grundlage der Kindschaft Israels vor Gott (PesR 5.2–3). Hierin spiegelt sich die Auseinandersetzung mit dem ChristentumAuseinandersetzung mit dem