Midrasch. Gerhard Langer
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Doch nicht jegliche Bestimmung, die von den Rabbinen erlassen wurde, wird gleichzeitig als biblisch verankert betrachtet. Nicht selten wird zwischen einer rabbinischen Anordnung und der biblischen Halacha unterschieden (z.B. bKetubbot 28b in Bezug auf das Zeugnis eines Kindes).
Der biblische Text will jedenfalls in seinen Tiefendimensionen verstanden werden, seine sprachlichen Zeichen müssen identifiziert und gedeutet, seine Widersprüche geklärt, seine Doppelungen aufgelöst, seine vielen Textmarker von der kleinsten bis zur größten Einheit in Auslegung erläutert werden (vgl. dazu Stemberger, Grundzüge rabbinischer Hermeneutik). Der häufig zitierte Talmudabschnitt bSchabbat 88b spricht von den siebzig Zungen, in die sich jedes Wort aus dem Mund Gottes teilte. Dies stützt sich auf Bibelverse wie Ps 62,12 oder Jer 23,29. Der dort genannte Fels wird in viele Splitter zerhauen.
Die Mehrdeutigkeit der SchriftMehrdeutigkeit der Schrift ist Gegenstand einer über Jahrhunderte weiterentwickelten Hermeneutik, deren Grundlage nicht nur die Vollkommenheit der Schrift als göttliche Mitteilung, sondern vor allem ihre Dauerhafte Gültigkeitdauerhafte Gültigkeit ist.
Der religiöse Charakter der Schrift richtet sich gegen jegliche verächtliche Betrachtung des Textes und gegen die Behauptung, die Schrift habe keine tiefere Bedeutung. Ein Beispiel ist das Auflösen der Namenslisten in den Chronikbüchern an verschiedenen Stellen der rabbinischen Literatur.
Traditionell wird ein unterschiedlicher Zugang zur Schrift auch mit den Namen der Schulen R. Jischmaels und R. Aqivas verbunden. Diese werden uns noch in Bezug auf die halachischen Midraschim begegnen. R. Jischmael habe den Grundsatz vertreten, dass die Tora in der Sprache der Menschen rede (SifBem § 112). Dies bedeutet jedoch keine historisch-kritische Exegese im modernen Sinn. Denn auch für die Schule Jischmaels bleibt die Tora Wort Gottes vom Sinai. Moses schreibt nach Gottes Diktat. Aber Gott passt sich darin menschlicher Ausdrucksweise an. R. Aqivas Schule sieht die Schrift in ihrer aufzudeckenden Tiefendimension, in der jedes Detail Auslegung nach sich zieht. Hier nur ein Beispiel:
R. Jischmael fragte R. Aqiva: Da du Nachum aus Gamzu 22 Jahre lang als Schüler gedient hast (hast du gelernt, dass die hebräischen Partikel) ach und raq („nur“) dazu dienen, einzuschränken, während et (Akkusativpartikel) |47|und gam („auch“) dazu dienen, auszuweiten/einzuschließen. Was bedeutet dann et hier (in Gen 1,1: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ = be-reschit bara elohim et ha-schamajim we-et ha-aretz)?
Er (Aqiva) sagte zu ihm: (?)
(Jischmael): Wenn die Bibel gesagt hätte: es schuf(en) im Anfang Elohim (pl.), (nämlich) Himmel und Erde, könnten wir sagen, dass auch Himmel und Erde Gottheiten sind.
Er (Aqiva) sagte: „Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre (ki lo davar req hu mikkem)“ (Dtn 32,47). Und wenn es leer ist, dann liegt es an euch (mikkem), weil ihr nicht wisst, wie ihr es auslegen (li-drosch) sollt;
„et ha-schamajim (den Himmel)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Sonne, Mond, Sterne und Gestirne; „we-et ha-aretz (und die Erde)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Bäume, Gräser und den Garten Eden. (BerR 1.14)
Dieser öfter emendierte, nicht ganz eindeutige Text (mit Visotzky, Jots, S. 259–260, der sich wiederum an einen Vorschlag von Graetz hält, muss man wohl die erste Antwort als Rede Jischmaels verstehen) ist letztlich in seiner Aussage klar. Während Jischmael et als Akkusativpartikel für notwendig erachtet, um – nicht zuletzt angeregt durch die Pluralform elohim – nicht in den Irrtum zu verfallen, Himmel und Erde seien Subjekt und nicht Objekt der Aussage und daher auch Götter, nützt Aqiva dieselbe Partikel als hermeneutischen Anker. Wenn ein gam oder et steht, ist es ein Indiz dafür, dass die Bibel etwas einschließen will, was nicht direkt im Text steht. Aqiva wendet hier ein Verfahren an, das als Ribbui (Einschließung) bzw. Miut (Ausschließung) bekannt ist (vgl. IV.5).
Stemberger (Grundzüge rabbinischer Hermeneutik. In: JM I, S. 115–116) erwähnt neben Ribbui und Miut beispielhaft den Analogieschluss sowie Gematria und NotarikonNotarikon. Die Methode des Notarikon (ein Wort, das sich vom Schnellschreiber, dem Notarius, ableitet) versteht Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben neuer Wörter oder zerlegt die Worte in ihre Silben, die wiederum als Worte verstanden werden.
So wird etwa in BerR 7.1 zu Gen 1,20 („Das Wasser wimmle von [lebenden] Wesen“ = jischretzu hammajim scheretz [nefesch]) durch Buchstabenumstellung „Er schuf eine Form im Wasser“ (tzar tzura bammajim) gelesen.
Die GematriaGematria versteht Buchstaben als Zahlen, da jeder hebräische Buchstabe einem Zahlenwert entspricht (aleph = 1; jod = 10; taw = 400). So wird bis heute gern – vor allem im Zusammenhang mit dem Fest Schawuot – darauf verwiesen, dass der Zahlenwert des Namens Rut (resch = 200; waw = 6; taw = 400) 606 beträgt. Da Rut als Moabiterin bereits sieben noachidische Gebote hielt, verweist nach traditioneller Lesart der Zahlenwert 613, der sich |48|aus ihrem Namen + 7 ergibt, dass sie die Vollzahl der 613 Gebote und Verbote gehalten hat, also Konvertitin war.
In BerR 43.2 wird Gen 14,14 ausgelegt: „Als Abram hörte, sein Bruder sei gefangen, musterte er seine ausgebildete Mannschaft, 318 Mann, die alle in seinem Haus geboren waren, und nahm die Verfolgung auf bis nach Dan“. Die 318 Männer sind demnach nur einer, nämlich Eliezer, da der Zahlenwert des Namens 318 beträgt (aleph = 1; lamed = 30; jod = 10; ajin = 70; zajin = 7; resch = 200).
Jegliche Redundanz, jegliches als unnötig empfundene Wort ist den Rabbinen Grund zur Auslegung. Sie gehen eben von einem klaren, schnörkellosen und logischen Text aus. Gibt es also Hinweise, dass er diesen Kriterien nicht entspricht, verweisen diese auf eine aufzudeckende Botschaft.
Hier ein Beispiel aus BerR 55.7BerR 55.7: In Gen 22,2 heißt es: „Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak“. Diese Information hätte logischerweise auch viel kürzer sein können – z.B. „Nimm Isaak“. Die lange Formulierung bedarf daher einer Erklärung. Sie kann nicht ohne Absicht und Bedeutung sein:
Er sagte: „Nimm deinen Sohn“.
Er (Abraham) antwortete: Welchen Sohn?
Er sagte zu ihm: „deinen einzigen“.
Er antwortete: Dieser ist der einzige seiner Mutter und jener ist der einzige seiner Mutter.
Er sagte: „den du liebst“.
Er antwortete: Gibt es denn im Inneren Grenzen?
Er sagte zu ihm: „Isaak“.
Warum hat er es ihm nicht offenbart?
Um ihm Belohnung für jedes einzelne Wort zu geben.
Das ist die Ansicht von R. Jochai:
„Zieh weg aus deinem Land, [von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde]“ (Gen 12,1) – das ist deine Provinz (Eparchie);
„von deiner Verwandtschaft“ – das ist deine Nachbarschaft;
„und aus deinem Vaterhaus“ – das ist dein Vaterhaus;
„in das Land, das ich dir zeigen werde“.
Warum hat er es ihm