Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
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Auch das augenfällige Hysteron-Proteron von „Containerisierung“ bzw. einem Einsperren von soziomateriell marginalisierten Gruppen in ihren deprivierten Regionen und Stadtteilen (vgl. Kessl/Otto 2007) durch die Protagonist/innen der SRO erfüllt vollkommen den englischen Begriff für absurd, i. e. „preposterous“, in dessen Etymologie die Verwechslung von „Vorher“ und „Nachher“, von Ursache und Wirkung deutlich wird. Kurzum: Die Mechanismen von Armutsverdrängung und Deprivation waren schon wirksam, ehe die SRO den Finger auf die Wunde legte.
4.Fiat voluntas tua – Dein Wille geschehe?
V. a. das zentrale und oberste Prinzip der SRO („Am Willen des Klienten ansetzen“) erschüttert nach wie vor vielfach das Selbstverständnis der Praktiker/innen.
Die unlautere Verkürzung dieses Prinzips als unkritische Willfährigkeit gegenüber den Wünschen der Nutzer/innen (vgl. Fürst/Hinte 2017, S. 18) verkennt allerdings, dass sich der Wille eines Menschen permanent in seiner jeweiligen Existenz manifestiert. Und zwar je nach den Möglichkeiten, die dem Intellekt des Individuums im jeweils konkreten sozialräumlichen Arrangement, i. e. seiner „Welt“, zugänglich sind, also willkürlich im Sinne Arthur Schopenhauers (vgl. Schopenhauer 1996).
Ja, die Suche der Expert/innen nach diesem unter Wünschen nur scheinbar „verschütteten echten“ Willen der Leistungsberechtigten gestaltet sich nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil er manifest vor den Augen ist, sich aber im gesellschaftlich-normativen Kontext häufig so nicht manifestieren soll.
Folgen wir dem – aus Schopenhauers Preisschrift „Über die Freiheit des Willens“ (Schopenhauer 1986) abgeleiteten – Diktum „Der Mensch kann zwar tun, was er will. Er kann jedoch nicht wollen, was er will“, sind gerade die sozialräumlichen Kontexte aufschlussreich hinsichtlich des individuellen Willens und dessen Objektivation in Reaktion auf die gegebenen Umstände.
Den Phänomenen eigensinniger lebensweltlicher Alltagsvollzüge und der Frage individueller Verantwortung begegnet die Soziale Arbeit in ihren verschiedensten Handlungsfeldern meist leider nach wie vor mit Interventionsprogrammen, deren Anspruch auf genuines User-Involvement und Respekt vor dem sich manifestierenden Willen nur ein Lippenbekenntnis bleibt.
Diese Haltung geißelt bereits der „Philosoph des Willens“ Arthur Schopenhauer als das Wesen von Unrecht eo ipso – i. e. „die Verneinung des fremden Willens zur stärkeren Bejahung des eigenen“ (vgl. Schopenhauer 1986). Ein wohlmeinender sozialarbeiterischer Zugang von „Ich höre Dir als Nutzerin Sozialer Arbeit zwar zu, aber ich weiß schon, was besser für Dich ist“ (vgl. Fürst/Hinte 2017, S.17) kann und muss in diesem Sinne auch als (professions)ethisches Unrecht inkriminiert werden. Die Praxis Sozialer Arbeit oszilliert notwendigerweise zwischen ihren Aufträgen „Normanpassung“ und „Normänderung“. Die damit einhergehende Versuchung der Professionist/ innen ist allemal, die selbstexplorierende Auseinandersetzung des/der Adressaten/Adressatin kommunikativ so zu steuern, ja im schlechtesten Fall zu manipulieren, dass ein latent vorausgesetztes Ziel tendenzieller Normanpassung (das in der eigenen bzw. organisationalen Routine einfacher zu erreichen und zu evaluieren ist als etwa fordernde Normänderungsprozesse im Sinne systemischer Inklusionsförderung) in der Klienten-Sozialarbeiter-Interaktion ein „It goes without saying!“ zu Lasten des Klientenwillens darstellt.
Dort, wo sozialarbeiterische und sozialpädagogische Expert/innenlogik auf die – zwar gerne postulierte – unabdingbare Freiheit des Willens jedes/ jeder einzelnen Nutzers/Nutzerin Sozialer Arbeit prallt, greift das vorgeschobene Konstrukt der „volonté général“ auf Subjekte und Gemeinwesen mit oktroyierten Lösungen mehr oder weniger ungeniert über.
In einer provokanten Hyperbel und analog zum launigen Diktum, dass die Politik doch das Volk auflösen und sich ein neues wählen möge: Wenn die Soziale Arbeit sich selbst ein vom Willen der Nutzer/innen weitgehend entkoppeltes Mandat gegeben hat/zuordnen hat lassen, tut eine Kurskorrektur entlang der Sozialraumorientierung not.
5.Mangelware sozialräumliches Vorstellungsvermögen?
Ausgehend von dieser Crux der Sozialen Arbeit in ihrem Tripelmandat sowie Schopenhauers o. a. Unterscheidung von Wille und Willkür (Schopenhauer 1996) wird deutlich, welche Unruhe der Begriff „Wille“ aktuell im Diskurs Sozialer Arbeit nach wie vor stiften muss und warum es eines besonderen „sozialräumlichen Vorstellungsvermögens“ bedarf, damit die Soziale Arbeit die notwendige Transition zu einer tatsächlich sozialraumorientierten Ausgestaltung ihrer Funktion im 21. Jahrhundert zu bewältigen vermag.
Diese Ausgestaltung ist de facto auch eine willkürliche Entscheidung des Willensträgers, des politischen Souveräns. Und dieser muss von der Leistung an sich und der Leistungsfähigkeit der Akteure/innen überzeugt sein. Wenn aber nun in sozialraumorientierter Arbeit endlich im besten Sinne von „Vox Populi Vox Dei“ die Nutzer/innen Sozialer Arbeit als Teil des demokratischen Souveräns ihre Forderungen und ihren Willen einbringen, verstört dies gegenwärtig die Wahrnehmung auch der sozialpolitischen Expertokrat/innen und Statistiker/innen eher, als dass ein ehrlicher (hermeneutischer) Versuch unternommen wird, diese Botschaften aus dem Sozialraum zu verstehen, das sozialräumliche Vorstellungsvermögen zu erweitern und so auch für die Weiterentwicklung der Profession zu nutzen.
Um jedoch einem allzu handlichen Missverständnis vorzubeugen: Der normative Rahmen des Auftrags der Sozialen Arbeit im Abklärungs- und Gefährdungsbereich darf und soll natürlich nicht unerwähnt bleiben, da unweigerlich die Kritik folgen muss, dass die Willensfreiheit etwa eines/einer Erziehungsberechtigten sich dem gesetzlichen Gewaltverbot unterzuordnen hat.
Es ist unbestritten, dass hier und auch in anderen Zwangskontexten die Soziale Arbeit vielfach für die Regel im Sinne eines impliziten Anpassungsauftrags an gesellschaftliche Normative steht. Es stellt jedoch eine Wende im sozialräumlichen Vorstellungsvermögen der Akteure/innen der Kinder- und Jugendhilfe dar, gemeinsam mit den betroffenen Menschen Arrangements für ihren manifesten Willen – ja, auch der schlagende Vater WILL etwas grundsätzlich Positives für sich, nämlich vielleicht Ruhe, Ordnung, Entlastung im Konflikt – zu entwickeln. In diesen ausgehandelten Rahmungen darf und wird sich der manifeste Wille der Person verwirklichen, ohne mit staatlichen Gesetzen zu kollidieren und genau jene Energie, die sich hier destruktiv nach außen kanalisiert, positiv bzw. innerhalb des Korsetts existierender oder allenfalls zu ändernder Normen in neuen Arrangements zur Entfaltung kommen.
Ein im permanenten Mehr-Augen-Prinzip stattfindendes sozialraumorientiertes Case Management mit dem klaren Ziel eines vom Nutzerwillen getragenen Arrangements (vgl. Budde/Früchtel 2004) mit gesellschaftlichnormativen, aber auch – in systemtheoretischem Verständnis – im Einzelfall durchaus veränderlichen Rahmenbedingungen als oberstes Navigationsinstrument in der professionellen Arbeitsbeziehung, ist also in gewohnten Konstellationen der Leistungserbringung ein massiver Störfall.
6.Sozialraumorientierung braucht, aber ist nicht Sozialmonitoring – „Fiant statisticae et pereat mundus!“
Wo der manifeste Wille sich eines sozialen Raums bemächtigt und diesen einnimmt, kommt es natürlich zu Konflikten in verschiedensten Formen. Diese Räume wurden historisch ja bereits quasi feudalistisch zugeteilt und – das Ausmaß der Überwachbarkeit im realen und virtuellen Raum spottet Orwells 1984 mittlerweile – werden