Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
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Auch in der – meist von der öffentlichen Hand direkt oder indirekt beauftragten – Forschung herrscht Angst davor, den manifesten Willen der Beforschten tatsächlich mit den Beforschten zu ergründen. Dies führt zu einem Habitus scheinwissenschaftlich quantitativ-objektiver Methodik, der eine sterile Distanz zum Forschungsobjekt herzustellen versucht. Fiant statisticae et pereat mundus – es mögen Statistiken erstellt werden, auch wenn die Welt untergeht. Eine passende Statistik erlaubt den politischen Obrigkeiten bisweilen ohne Rücksicht auf die sozialräumlichen Gegebenheiten, ihre Apriori-Entscheidungen zu objektivieren und zu legitimieren.
Sozialmonitoring anhand bestimmter Indikatoren kann jedoch als Basis für eine Planung in bestimmten Beobachtungsräumen durchaus dienlich sein, wenn es darum geht, die strukturellen Rahmungen und Benachteiligungen von Quartieren und Regionen statistisch zu belegen. Die Skepsis gegenüber derart gestalteten „objektiv-wissenschaftlichen“ Zugängen speist sich meist aus augenscheinlichen und fühlbaren Widersprüchen der „ge-/erfundenen“ Forschungsergebnisse und den Alltagsvollzügen der Adressat/innen in den Sozialräumen bzw. der Akzeptanz der anhand bestehender (wessen?) Normierungsaufträge vorgefertigten bzw. existierenden Angebote.
Als die FH Burgenland 2019 beauftragt wurde, die Situation von jungen Menschen zu beforschen, die von der gesetzlichen Ausbildungspflicht bis 18 erfasst werden, waren die Expert/innen aus der lokalen Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Präsentation der Zwischenergebnisse peinlich berührt, zu hören, dass diese Maßnahme zur Verhinderung von NEETs-Karrieren im Jugendalter (Not in Employment Education or Training) greift und die Anzahl dieser Klient/innen tatsächlich binnen kurzer Zeit drastisch gesunken ist. Wenn das Ziel der Ausbildung und beruflichen Integration gelingt, so ist dies fraglos ein persönlicher Erfolg in der Entwicklung eines jungen Menschen und gesamtgesellschaftlich ein bemerkenswerter sozialer Fortschritt. Natürlich bedeutet dies jedoch auch, dass sich mit der gesellschaftlichen evolutionären Weiterentwicklung die Angebote der Sozialen Arbeit weiterentwickeln müssen.
Salopp evolutionsbiologisch formuliert: 99% aller Spezies sind – die meisten auch ohne Zutun des Menschen – in der Evolution ausgestorben, warum sollte dies nicht auch für die diversen Spezies „Sozialer Problemlagen“ gelten? Wenn eine spezielle, als soziales Problem markierte Konstellation zu existieren aufhört, so bedroht dies zwar die konkrete Nische eines Dienstes und erfordert Anpassung. Aber es bedeutet nicht eo ipso das „Aussterben der Sozialen Arbeit“. Auch hier bedarf es einer Weiterentwicklung und einer evolutionären Anpassung der Leistungserbringer. Soziale Arbeit, die sich hinter einem pessimistischen Optimismus verbarrikadiert, steht dabei dem gesellschaftlichen Fortschritt im Weg: Es ist zwar alles heilbar, aber nichts ist heil (vgl. Marcuse 1994).
Conclusio
V. a. das Prinzip der Willensorientierung in der Praxis Sozialer Arbeit im Sinne der SRO wird nach wie vor vielfach missdeutet. Auch müssen die nach wie vor aktuellen Auseinandersetzungen zwischen eingesessenen Konzepten und Theorieüberbauten Sozialer Arbeit und der Sozialraumorientierung als ein evolutionärer Prozess verstanden werden, in dem sich der „Wille“ der Agierenden sowohl auf Seiten der Protagonist/innen als auch der Kritiker/innen manifestiert. Eine produktive Skepsis gegenüber dem innovativen Konzept der SRO darf und soll sich daher nicht einer naiv eigenmächtigen Deutungs- und Erlaubnishoheit bedienen. Die Beförderung einer konstruktiven Streitbarkeit bedarf daher in den Welten der Beteiligten einer Erweiterung des sozialräumlichen Vorstellungsvermögens. Eine Weiterentwicklung des Konzeptes der Sozialraumorientierung wird auch im Austausch mit ähnlich progressiven Strömungen außerhalb des deutschsprachigen Raums gelingen, wo sich bereits willensorientierter Pragmatismus etabliert hat. Ein englischsprachiger Fachartikel aus der authentischen Feder Wolfgang Hintes, der voraussichtlich im kommenden Frühsommer im angloamerikanischen Raum veröffentlicht wird, kann hier als weiterer Brückenschlag dienen.
Literatur
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Richardt, Vincent (2013): Sozialraumorientierung in der Stadt Graz im Bereich Jugendwohlfahrt, Einführung eines Sozialraumbudgets. Evaluation des Pilotprojekts des Amtes für Jugend und Familie. Abschlussbericht. Graz
Schreier, Maren/Reutlinger, Christian (2013): Sozialraumorientierung Sozialer Arbeit; Folge Österreich. Wer drückt die Stopp-Taste? In: soziales_kapital, Nr. 10/2013. Graz
Schopenhauer, Arthur (1986): Parerga und Paralipomena, Sämtliche Werke in fünf Bänden Band IV. Berlin
Schopenhauer, Arthur (1986): Die Welt als Wille und Vorstellung I u. II, Sämtliche Werke in fünf Bänden. Berlin
Zach, Barbara (2014): Sozialraumorientierung in Graz. Eine Gegenüberstellung von Programmatik und Praxis. In: soziales_kapital, Nr. 12/2014
Fußnoten
1 Im Jahr 2014 wurde an der Fachhochschule das Department Soziales gegründet, wo das Fachkonzept Sozialraumorientierung als Lehr- und Forschungsschwerpunkt dient.
Bernhard Demmel
Die Orientierung am Willen in der Praxis – einfach, aber nicht leicht
Das Prinzip der Orientierung am Willen gilt gemeinhin als das Kernstück des Fachkonzepts Sozialraumorientierung (SRO). Für mich ist es das fachliche Herzstück. Mein persönliches Herzstück ist jedoch ein anderes: Meine Tochter. Sie ist zwei Jahre jung und das schönste Mädchen der Welt. Von ihr lerne ich die wirklich wichtigen Dinge im Leben und interessanterweise auch viel über meinen beruflichen Schwerpunkt, die Sozialraumorientierung. So habe ich durch sie erfahren, wie sich eine Veränderung